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1. Preis (a)

 

1. Preis (a)

Hier folgt die Bildreflexion der Gewinnerin des 1. Preises, Hannah Burger.

 

Hannah Burger Hannah Burger

Philosophische Bildreflexion zu „Die Liebenden“ (René Magritte)

Köpfe

Abstract:

 

Auf den ersten Blick erscheinen die Liebenden in Magrittes Bild als Seelenverwandte, deren Kopfverhüllung sie vor der Ablenkung durch Äußerlichkeiten schützt. Eine tiefer reichende Deutung jedoch begreift die Verhüllung als Schleier des Todes, den die Liebe überlebt. Dieser metaphysische Ansatz findet Anhaltspunkte in der Biografie des Malers. Dem philosophischen Rationalismus (Descartes) wiederum stellt sich die dargestellte Liebe als nur geistig mögliches Gefühl, wahrscheinlich ein Paradox, dar. Die Liebesentstehungsmythen der Diotima und des Aristophanes führen Hannah Burger schließlich zu dem Ergebnis, dass blinde Liebe und Leidenschaft auch heute noch existieren und sogar wichtig sind.

 

Das Bild „Die Liebenden“, welches in Jahre 1928 entstand, stellt zwei sich innig küssende Menschen dar. Die Köpfe dieser Menschen sind gleichermaßen von weißen Tüchern umhüllt, sodass es den beiden gänzlich unmöglich ist, sich zu sehen.

Die Leidenschaft des Kusses ist jedoch trotz der verdeckenden Tücher deutlich zu erkennen und scheint ungehindert möglich zu sein.

 

Im ersten Moment scheint die Aussage des Bildes völlig klar zu sein. Klassisch. Blinde Liebe. Blindes Vertrauen. Zwei Menschen lieben gegenseitig ihre beiden Persönlichkeiten. Es lässt sich sofort vermuten, dies sei eine Veranschaulichung dafür, dass die Liebe auf etwas Tieferem beruht als der sexuellen Anziehungskraft zweier Menschen.

 

Wie natürlich jeder Mensch weiß, welcher einmal im Glauben war, die Liebe gefunden zu haben, ist das Aussehen dabei zweitrangig. Ob wir den Menschen in einer unvorteilhaften Situation oder in schweren Zeiten sehen oder ob wir ihn strahlend vor Glück oder in seiner körperlichen Blütezeit erleben, sollte keine Rolle spielen. Man verliebt sich in das Innere eines Menschen und sobald dies einmal eingetreten ist, finden wir ihn in jeder Lebenslage wunderschön. Die Faktoren, ob wir einen Menschen riechen können, ob sich seine Berührungen richtig oder unangenehm anfühlen oder ob wir sobald wir ihn richtig kennenlernen, enttäuscht sind von seiner inneren Persönlichkeit fließen hierbei mit ein.

 

Nun stellt sich jedoch die Frage, ob diese beiden Menschen im Bildnis der „Liebenden“ sich kennen. Es könnte ebenso die Anziehungskraft zwischen beiden dargestellt sein. Möglicherweise haben sich die beiden nie gesehen oder kennengelernt.

Hierbei würde auf die Theorie, dass Männer und Frauen ihren Seelenverwandten, ihre große Liebe finden müssen, angespielt werden. Wäre es uns möglich in einer Welt, in der wir nicht sehen könnten, unseren Seelenverwandten zu finden? Wäre es möglich einen geliebten Menschen an seinem Geruch, seinen Bewegungen, seiner Stimme oder seinen Berührungen zu erkennen?

 

Der Glauben an eine solche Verbindung zwischen zwei Menschen wäre beruhigend für jene, die noch an Ehe und an ewige Liebe glauben; aber auch für jene, die sich keine Chancen in der Partnersuche ausmalen aufgrund ihres optischen Erscheinungsbildes. Es wäre ein Beweis dafür, dass etwas Tieferes durchaus noch zwischen zwei Menschen existieren kann und würde denen Mut geben, die an ihrer Liebe festhalten, während sie beobachten müssen, wie überall auf der Welt Ehen zu Bruch gehen und leichtsinnige Versprechen abgegeben werden. Wie aus Liebe Hass wird und die Gesellschaft ein ewiges Zusammensein schon tendenziell ausschließt. Die altmodische Art der Liebe, in der man gemeinsam durch harte Zeiten geht, scheint aus der Mode zu sein. Wir haben sofort eine Beziehungskrise, wenn wir uns streiten. Wir sind nicht mehr „richtig glücklich“ und denken uns, wir hätten doch im Grunde viel mehr verdient.

 

Dass man sich in einer Partnerschaft begnügt mit dem, was man hat, anstatt immer der nächsten heißen Nachbarin „nachzugaffen“, wird immer seltener. Aber warum streben überhaupt so viele nach dem „Neuen“, der „Abwechslung“, dem, was man hier eben nicht haben kann? Wenn wir doch einmal dazu gekommen sind, einen Menschen innig zu lieben, und wir uns deshalb für ihn als Lebenspartner entschieden haben, dann hatte diese Entscheidung zu jener Zeit doch auch Gründe. Und sowieso ist die Verbindung zu einem Menschen, den wir lieben und dem wir zutiefst vertrauen, doch viel kostbarer und wichtiger als die Anziehung, die ein attraktives Wesen auf uns ausübt.

 

Ob sich das Bildnis „Die Liebenden“ jedoch auf diese „blinde Liebe“ bezieht und uns sagen will, dieser Liebe zu vertrauen und bestenfalls nie wieder unser Tuch abzunehmen, damit unser Herz den Menschen sucht und unsere Triebe nicht durch etwas, das unser Auge für kurze Zeit erfasst, abgelenkt werden, ist trotzdem nicht mit Sicherheit zu sagen. Simon Weils Satz „Die Liebe ist der Blick der Seele“ könnte diese These jedoch unterstreichen, da es den Blick auf Äußerlichkeiten außer Acht lässt und sich auf eine tiefere Bindung beziehungsweise einen tieferen Blick ins „Innere“, die sogenannte „Seele“ des Menschen bezieht.

 

Möglicherweise an dieser Stelle ebenso wichtig könnte die Tatsache sein, dass wir Menschen daran glauben, dass die Seele das Einzige ist, das vom Menschen nach seinem Tod noch erhalten bleibt. Während der Körper des Menschen lediglich eine Hülle seiner entwickelten Persönlichkeit war, ist die Seele das Wesen dieses Menschen.

 

An dieser Stelle kommt man nun auch automatisch zu der Deutung, dass die Verhüllung durch die Tücher etwas mit dem Tod zu tun haben könnte. Das bedeutet: Bei weiterer Betrachtung und weiterer Auseinandersetzung mit Magrittes Werk scheint die zu Beginn so offensichtliche These, nach der die „Liebenden“ blinde Liebe und eine innige Verbindung darstellen, nicht mehr mit völliger Sicherheit als die nächstliegende Interpretation bezeichnet werden zu können. Könnte die Verschleierung der beiden Menschen psychologisch viel tiefer verankerte Wurzeln haben? Könnte der Tod möglicherweise die Sicht der beiden Liebenden aufeinander genommen haben? Wenn diese Menschen in den Schleier des Todes gewickelt worden wären und ihr dennoch inniger Kuss eine Verbundenheit auch nach dem Ableben der beiden symbolisiert, so wäre dieses Szenario definitiv nicht in der Realität existent. Viel größer wäre der Anschein eines Traumas oder der Hoffnung auf ein Wiedersehen zweier sich liebender Menschen auch nach dem Tod.

 

Diese Art der Liebe wäre nicht nur der ersten These entsprechend, da sie eine durch den Tod getrennte Verbindung übertrumpfen würde, sondern auch der zweiten These des Wiedersehens nach dem Tod. Hierbei geht die Deutung des Bildes schon auf eine Ebene zur Darstellung des Jenseits zu. Die Liebenden können sich in der Realität nicht sehen. Aufgrund des Glaubens, dass jetzt nur noch die Seelen existieren, lässt sich vermuten, dass der Kuss nur in einem psychischen Kopfszenario stattfinden kann. Auch die im Hintergrund verwendete blaue Farbe würde eine Darstellung des Jenseits oder des Himmels unterstützen.

 

In der Biografie des Künstlers lässt sich jedoch auch finden, dass dieser im Alter von 13 Jahren seine tote Mutter im Fluss seiner Heimatstadt auffand. Diese soll sich ertränkt und ein weißes Nachthemd über ihrem Kopf gestülpt haben. Nach dieser Information zu urteilen könnte der blau melierte Hintergrund ebenso das Wasser symbolisieren und somit erneut den Tod, in den die beiden Liebenden gehüllt sind.

 

Im Schulband „Zugänge zur Philosophie“ (Band 1, Berlin [Cornelsen] 2010, S. 31, Z. 56-66) findet sich außerdem ein Zitat René Descartes, welcher darüber philosophiert, wie man Dinge mit dem Geist im Gegensatz zum Auge wahrnimmt: „So muss ich schließlich gestehen, dass ich mir nicht einmal bildhaft vorstellen kann, was dieses Stück Wachs hier ist, sondern es allein durch den Geist auffasse. Ich rede von dem Wachs im Besonderen; beim Wachs im Allgemeinen ist dies noch viel klarer. Was ist denn nun dieses Wachs, das man nur im Geiste auffassen kann? Offenbar eben das, was ich sehe, berühre, bildhaft vorstelle, überhaupt dasselbe, das ich von Anfang an für seiend gehalten habe.“

 

In diesem kurzen Auszug beispielsweise sucht er nach jenem, was er ohne zu sehen und sich vorzustellen auffasst, und kommt zum Schluss, dass dies nur mit dem Geist möglich sein kann. Diese Schlussfolgerung ist möglicherweise auch sehr zutreffend für die Deutung des Bildnisses der Liebenden, da hierbei versucht wird eine Liebe und Körperkontakt darzustellen, ohne dass eine Sicht oder Vorstellung des Anderen vonnöten ist. Die Liebe wäre demnach nach René Descartes das „Wachs“ im Besonderen, welches mit dem Geist aufzufassen ist. Descartes jedoch vertrat die Theorie, dass die Sinneseindrücke, durch welche wir die ganze Welt aufnehmen, leicht zur Täuschung führen können. Daher kann die Untermauerung mit einem Zitat Descartes auch umstritten sein.

 

Ebenso umstritten ist die Theorie, wie zwei Menschen sich verlieben. Beispielsweise wird die Meinung vertreten, dass rein biologische Faktoren dazu führen, dass zwei Menschen die Liebe zueinander finden. Doch wem würde es schmeicheln, wenn der Partner auf die Frage, was er an einem liebe, nüchtern die Antwort: “Das kam einfach so“ oder „Ich weiß es nicht. Auf einmal war das tiefe Gefühl da“ bekommen würde? Jeder kennt das, wenn man das Gefühl nicht zuordnen kann und nicht sicher sein kann, woher Gefühle kommen und warum. Dennoch lechzen wir Menschen danach, dass man uns sagt, dass wir so schön sind, mit unserer Intelligenz überzeugt haben oder ein amüsanter und unterhaltsamer Mensch sind.

 

Das Bild „Die Liebenden“ jedoch könnte sich auf die rein biologische Anziehung zwischen den Liebenden beziehen, da sie sich nun mal nicht sehen können. Ob die beiden sich nun vorher kennenlernen konnten, ist hierbei fraglich. Sicher jedoch ist, dass sie innig und leidenschaftlich abgebildet sind und sich dieser Leidenschaft blind hingeben wollen. Die unbestreitbare These, es handle sich um unkontrollierte Liebe, ist eher provokant als entsprechend dem, was die Menschheit im Allgemeinen hören möchte.

 

Im Symposion Platons, in welchen die Aussagen und Meinungen verschiedenster Philosophen in Form eines Dialoges niedergeschrieben sind, wird bezüglich des „Kennenlernens“ von Philosophin Diotima die Theorie vertreten, dass dies in verschiedenen Stufen abläuft. Zunächst fällt dem Menschen das äußere Erscheinungsbild des Anderen auf. Auf Stufe zwei jedoch verlieren die Äußerlichkeiten schon wieder an Bedeutung, da der Mensch realisiert, dass sehr viele Menschen ein attraktives Äußerliches haben. Im weiteren Verlauf nimmt er die guten Eigenschaften des Anderen wahr, um danach festzustellen, dass auch diese sehr viele Menschen besitzen. Erst dann, wenn diese Stadien durchlaufen sind, entdeckt der Mensch das Wahre, Gute im Anderen und der Blick auf dessen Seele wird immer klarer. Nach Diotima ist dies die wahre Liebe und kommt einer blinden Liebe gleich. Demnach wäre eine Leidenschaft und blindes Vertrauen auch möglich, wenn sich die Liebenden bereits gesehen und kennengelernt haben.

 

Ein weiterer Philosoph namens Aristophanes erzählt von seiner Theorie der „Kugelmenschen“. Ein Mythos, der besagt, dass jedes männliche oder weibliche Wesen danach strebt sich mit einem andersgeschlechtlichen Wesen zu vereinen, da dabei die größte Glückseligkeit des Menschen entsteht. Nach Aristophanes existierten einst rein männliche und rein weibliche sogenannte „Kugelmenschen“, welche von den Göttern getrennt wurden aus Angst vor deren Macht und Stärke. Aus diesem Grund strebt jedes Geschlecht danach diese Ganzheit wieder herzustellen und wäre eine Erklärung für die Entstehung von Sehnsucht, Leidenschaft und tiefer Liebe.

 

Schlussendlich vertrete ich die These, dass diese blinde Liebe und Leidenschaft durchaus existieren, nein, sogar wichtig sind. Heutzutage ist man viel zu sehr fixiert auf Äußerlichkeiten. Doch wie schön ist das Gefühl, wenn man plötzlich einen Menschen wunderschön findet, der anderen möglicherweise gar nicht auffällt. Wie unglaublich fühlt es sich an, wenn wir jemanden kennenlernen dürfen und uns nicht nur zu ihm hingezogen fühlen, sondern merken, dass dessen bloße Anwesenheit alles um uns herum verändert und erleuchtet.

 

Was die beiden Liebenden unter ihren weißen Tüchern wirklich sehen, ist uns nicht zugänglich und macht das Ganze umso spannender. In welche Welt sie möglicherweise gemeinsam eintreten können, lediglich durch das Schließen der Augen und das blinde Vertrauen auf die eigenen Sinne, die sie leiten. Sie leiten besser als das Auge dies jemals tun könnte. Sie können uns täuschen. Aber sie können in ihrer Intensität viel stärker oder schwächer sein als die täuschungsunanfälligen. Für den Moment sind sie alles, was zählt, und alles, was Glückseligkeit bringt.

 

Quellen:

-http://www.cosmiq.de/qa/show/2756994/Interpretation-von-Die-Liebenden-Gemaelde-von-Rene-Magritte/

-http://de.wikipedia.org/wiki/Symposion_(Platon)

-Schulbuch „Zugänge zur Philosophie“ 1, Berlin (Cornelsen) 2010.

-Christoph Horn, Platon: Symposion, Berlin (Akademie) 2012.

 

 

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