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Philosophischer Diskurs

 

Philosophischer Diskurs

Das Adjektiv „diskursiv“ kommt vom lateinischen „discurrere“, das „auseinanderlaufen“ heißt. Diskursives Denken schreitet von einem bestimmten Begriff zu einem anderen logisch fort und baut das ganze Gedankengebilde aus seinen Teilen auf. Damit steht es im Gegensatz zur intuitiven Erkenntnis durch Anschauung. Als „Diskurs“ gilt meist ein qualifizierter, argumentativ geführter Gedankenaustausch.

Diskussion Streitgespräch Erörterung Abhandlung Kritik Meinungsaustausch

Deminar

Diskussion macht Philosophie lebendig

Freiheit oder Leben?

In der gegenwärtigen Krise gibt es verschiedene Ansichten darüber, ob und in welchem Ausmaß unsere grundgesetzlich garantierten Freiheitsrechte eingeschränkt werden sollen, um das Leben gefährdeter Gruppen in der Gesellschaft zu schützen. Bei diesem Zielkonflikt geht es auch um die philosophische Frage, wie sich die Grundwerte Freiheit und Leben zueinander verhalten: Lässt sich Freiheit ohne Leben überhaupt vernünftig denken? Drei Philosophinnen der HCG beziehen in ihren Essays Stellung zur Frage, inwieweit der demokratische Staat berechtigt ist, die Grundrechte seiner Bürger*innen einzuschränken.

Drei Schülerinnen beziehen Stellung

 

 

Amelie Schmücker

Wie weit darf der demokratische Staat die Grundrechte in einer Krisensituation einschränken?

Wie weit darf der demokratische Staat in Krisensituationen gehen, um die Situation wieder einigermaßen unter Kontrolle zu bringen? Antworten auf diese Frage finden sich in vielen Staatstheorien von bekannten Philosophen, doch die Beantwortung dieser Frage ist, zumindest in den letzten Jahren, nie so aktuell gewesen wie im Moment. Wie allgemein bekannt besteht unsere derzeitige Krisensituation in der Bedrohung durch das Coronavirus bzw. durch Covid-19. Eine Infektion mit diesem Virus ist für Menschen über 65 oder solchen mit Vorerkrankungen gefährlich und kann sogar tödlich enden, während die Krankheit bei jüngeren Patienten meist undramatisch verläuft.

Damit sich das Virus allerdings nicht zu schnell verbreitet, muss auch die Freiheit des ungefährdeten Teils der Bevölkerung eingeschränkt werden. Vielen Menschen gefallen diese Einschränkungen nicht und sie behaupten, dass die derzeitigen Maßnahmen gegen die Grundprinzipien der Demokratie verstoßen. Aufgrund dieser Zerrissenheit in der Bevölkerung, zwischen den Leuten, die meinen, die Maßnahmen gegen die Ausbreitung von Corona verstießen gegen die Grundrechte, und denen, die sie für angebracht halten, bietet es sich an, die Frage aus den Sichtweisen von verschiedenen Staatsphilosophen zu beleuchten.

Orientiert man sich an der Staatstheorie von Carl Schmitt, so darf der Staat in einer Krise alles tun, was nötig ist, um die Situation wieder unter Kontrolle zu bringen. Schmitt schlägt sogar vor, in solchen Fällen einen Diktator als vorübergehenden Krisenmanager einzustellen, denn Diktatoren haben bekanntlich eine umfassendere Kontrolle und Möglichkeit zur Machtausübung als demokratische Regierungen. Neben Schmitts Staatstheorie gibt es allerdings auch weniger drastische Überlegungen dazu, wie viel Macht ein demokratischer Staat haben sollte.

Jean-Jaques Rousseau plädiert in seiner Staatstheorie beispielsweise dafür, dass alle Bürgerinnen und Bürger ihre persönlichen Interessen dem Gemeinwillen des Volkes unterordnen sollen. Mit diesem Gemeinwillen ist nicht die Summer aller Einzelinteressen von jedem Mitglied der Bevölkerung gemeint sondern das, was für die gesamte Bevölkerung am besten ist, das Gemeinwohl also.

Bezieht man diese Theorie auf die Coronakrise, heißt das also Folgendes: Würde es um die Einzelinteressen aller Bürger gehen, dann würden die Interessen der Mitglieder Nicht-Risikogruppe, die sich möglichst wenig Beschränkungen ihrer Freiheiten wünschen, überwiegen, da die Anzahl nicht gefährdeter Menschen in Deutschland höher ist als die von Mitgliedern der Risikogruppe.

Rousseau richtet sich aber nach dem Gemeinwohl, und da das Sterben von tausenden Menschen Rousseaus Definition von Gemeinwohl definitiv mehr widerspricht als einige Einschränkungen der Freiheiten der Bevölkerung, denke ich, dass es nach Rousseaus Staatstheorie definitiv legitim ist, die Freiheitsrechte der Bürger eines Staates vorübergehend einzuschränken, zumal Rousseau solche Einschränkungen der individuellen Freiheit möglicherweise ohnehin vorhersieht, da ein Staat, in dem alles dem Gemeinwillen untergeordnet ist, gar nicht ohne derartige Einschränkungen funktionieren kann.

Der etwas modernere Philosoph John Rawls fordert in seiner „Theorie der Gerechtigkeit“ alle Menschen zu einem Gedankenexperiment auf, welches laut ihm zu einer möglichst gerechten Gesellschaft führen soll, sich meiner Meinung nach aber auch gut auf unsere momentane Krisensituation anwenden lässt. Rawls erklärt, dass unsere Gesellschaft deshalb so ungerecht ist, weil die Menschen, die die Entscheidungen treffen und somit auch die Macht darüber haben, wie viel Hilfe den Armen zukommen sollten, alle wohlhabend sind. Dadurch, dass alle Mächtigen sich Essen, Kleidung und Bildung leisten können, liegt es ihnen nicht so sehr am Herzen, dafür zu sorgen, dass alle Menschen Zugang zu diesen grundlegenden Dingen haben, weil sie selbst eben schon versorgt sind und der Mensch leider von Natur aus eher egoistisch handelt.

Um nun eine gerechte Gesellschaft zu erschaffen, rät Rawls zu einem Gedanken Experiment, welches er „Schleier des Nichtwissens“ nennt. Dieses sieht vor, dass man sich gedanklich in einen Zustand vor der eigenen Geburt versetzt, in welchem noch nicht klar ist, wo und als was man geboren werden wird. Da nun auch die Möglichkeit besteht, als Kind einer armen Familie in einem Entwicklungsland geboren zu werden, wird der Teilnehmer des Experiments automatisch wissen, wie eine möglichst gerechte Gesellschaft aussehen soll, in der er, egal in welchem Land er geboren wird, die gleichen Chancen hat. Die Gesellschaft, die den Teilnehmen in diesem Experiment als am wünschenswertesten erscheint ist, laut Rawls, auch in der Realität die gerechteste und damit erstrebenswerteste.

Wendet man den „Schleier des Nichtwissens“ nun auf die Coronakrise an, so würde das heißen, dass derjenige, der das Gedankenexperiment durchführt, nicht weiß, ob er als Mitglied der Risikogruppe oder als Ungefährdeter geboren werden wird. In dieser Situation würden die meisten Menschen, denke ich, zu dem Schluss kommen, dass einige Einschränkungen der persönlichen Freiheit annehmbar sind, da ja nun die Chance besteht, dass auch sie Mitglied der Risikogruppe sein werden und sie sich somit den bestmöglichen Schutz ersehnen, wobei sie, anders als bei Schmitt, wahrscheinlich gleichzeitig zu dem Schluss kommen werden, dass dem Staat nicht alles erlaubt sein darf, da ja schließlich auch die Möglichkeit besteht, dass sie nicht von Corona gefährdet sein werden. Wendet man Rawls Theorie auf unsere derzeitige Krise an, dürfte der Staat also soweit gehen, einige Grundrechte einzuschränken um die Risikogruppe zu schützen, er dürfte den Menschen jedoch nicht, wie es beispielsweise in einigen Teilen Chinas der Fall war, jegliche Freiheiten entziehen.

Ich persönlich kann mich am meisten mit Rawls Theorie identifizieren. Ich denke zwar, dass die Anwendung von Rousseaus Staatsphilosophie zum gleichen oder ähnlichen Ergebnis führen würde, allerdings halte ich Rawls Gründe für gerechtfertigter, da mir Rousseaus Theorie in manchen Punkten wie beispielsweise der Bereitschaft, die Interessen des Individuums zu Gunsten des Gemeinwillens völlig zu ignorieren, für etwas zu drastisch vorkommt.

Natürlich bin ich nach fast drei Monaten Quarantäne nicht begeistert von den momentanen Einschränkungen, allerdings bin ich der Meinung, dass derartige Entbehrungen unsererseits gerechtfertigt sind, um die Mitglieder der Risikogruppe zu schützen. Zudem denke ich nicht, dass die Maßnahmen die unsere Regierung momentan ergreift, gegen die Grundrechte verstoßen, denn in Artikel 19 unseres Grundgesetzes ist festgehalten, dass es dem Staat unter gewissen Umständen erlaubt ist, die Grundrechte seiner Bevölkerung in angemessenem Maße einzuschränken. In anderen Ländern mag die Diskussion, ob die Freiheitseinschränkungen zu weit gehen, angebracht sein, doch wir in Deutschland dürfen uns schließlich noch relativ frei bewegen und die Maßnahmen werden ja auch bereits wieder gelockert, insofern stimme ich ausnahmsweise dem zu, was unsere Regierung tut.

 

Charleen Hartmann

Freiheit und Sicherheit müssen friedlich zusammenleben!

Die Aufgabe eines Staates ist die Erfüllung der Sicherheit seiner Bürger*innen. So sehen es auch Staatsphilosophen wie Thomas Hobbes, Jean-Jacques Rousseau und John Locke. Doch ein legitimer Staat muss auch die Freiheit seiner Bürger*innen gewährleisten, so Immanuel Kant und erneut John Locke. In einem demokratischen Staat muss es also eine Balance zwischen Freiheit des Einzelnen und Sicherheit der Gesellschaft, die durch die Macht des Staates kontrolliert wird, geben. Es muss eine Balance geben zwischen Rechten, die die Freiheit des Einzelnen sichern und die Macht des Staates einschränken, und Gesetzen, die die Freiheit des Einzelnen einschränken und die Macht des Staates sichern.

Im Folgenden werde ich das Verhältnis zwischen Sicherheit und Freiheit, zwischen Staat und Bürger*innen untersuchen und es auf Krisensituationen wie der Coronakrise beziehen. Ich orientiere mich dabei an den zwei Staatsphilosophen John Locke und Immanuel Kant. Beide haben das Verständnis der Menschenrechte in der heutigen Demokratie geprägt. John Locke ist einer der wichtigsten Staatsphilosophen in Anbetracht der Demokratie. Er selbst begründet mit dem Naturrecht des Menschen, warum die Macht des Staates kontrolliert werden muss. Der Mensch nämlich hat allein schon durch seine Geburt das Recht auf Freiheit, Glück, Gesundheit und Eigentum. Das erste Recht spricht für die Freiheit des Einzelnen. Die letzten zwei, Gesundheit und Eigentum, sprechen für die Sicherheit des Einzelnen und somit der ganzen Gesellschaft. Glück spricht für die richtige Kombination von Freiheit und Sicherheit.

Anders als in Terrorstaaten, wo das Naturrecht der Menschen durch Gesetze unterdrückt wird, muss ein demokratischer Staat dem Naturrecht gerecht werden. Somit muss der demokratische Staat ein legitimes Verhältnis zwischen Freiheit gebenden und Sicherheit gebenden Rechten finden. In Deutschland ist dieses Verhältnis von unserem Grundgesetz bestimmt. Es gewährleistet Freiheit durch die Freiheitsrechte wie Meinungsfreiheit und Handlungsfreiheit. Ebenfalls gewährleistet es Schutz durch Rechte wie das Recht auf körperliche Unversehrtheit.

In der Coronakrise ist die Sicherheit der Bürger*innen gefährdet. Die Gesundheit sowie das Eigentum in Form von Finanzen, Immobilien, Investitionen usw. werden bedroht. In diesen Krisensituationen muss das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit verschoben werden. Da die Sicherheit der Gesellschaft schwankt, ist sie in Krisensituationen wichtiger als die Freiheit des Einzelnen. Der Staat muss also den Fokus von Freiheit gewährleistenden Rechten auf freiheitseinschränkende Maßnahmen legen. Somit darf der Staat die Grundrechte seiner Bürger*innen in Krisensituationen wie der Coronakrise einschränken. Es stellt sich aber immer noch die Frage, wie weit diese Maßnahmen reichen dürfen.

Hierzu möchte ich auf Immanuel Kant ansprechen. Nach Kant darf der Staat nur Gesetze erteilen, welche von jedem/jeder vernünftigen Bürger*in des Volkes Zustimmung erhalten würde. Somit darf der Staat auch nur Einschränkungen durchführen, welche ebenfalls Zustimmung von den vernünftigen Bürger*innen bekommen würden. Für Kant gibt es drei Prinzipien a priori, die im Staat verwirklicht werden sollen. Schon das erste ist die Freiheit als Mensch.

Doch Kant selbst schrieb einst: ,,Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des Anderen beginnt.” Ist die Freiheit des Anderen bedroht, so ist dieser nicht mehr sicher. Unter normalen Umständen unterstützen die Grundrechte die Freiheit des Einzelnen, ohne die Freiheit und Sicherheit des Anderen zu gefährden. Doch in Krisensituationen gibt es diese normalen Umstände nicht. Der Staat muss also Kants Aussage neu interpretieren. Die Grundrechte können nämlich Rechte enthalten, die in der Krisensituation wie in der Coronakrise die Freiheit und Sicherheit des Anderen plötzlich doch gefährden. Es sind genau diese Grundrechte, die der Staat mit der Zustimmung seiner vernünftigen Bürger*innen einschränken darf und sogar muss.

In normalen Zuständen würde es die Freiheit und Sicherheit von keinem bedrohen, wenn junge und gesunde Leute sich untereinander treffen. Doch in der Coronakrise gefährden diese Treffen die Risikogruppen. Der Coronavirus könnte sich durch die Treffen verbreiten und somit zu mehr Infektionen und mehr Todesfällen führen. Es ist nur sinnvoll die Freiheit von jungen Menschen einzuschränken, um die Sicherheit der Risikogruppen zu schützen. Wenn Freiheit in der Gesellschaft die Oberhand nimmt, dann ist die Gesellschaft nicht mehr sicher und der Staat unnötig. Wenn aber die Sicherheit die Oberhand nimmt, dann sind die Menschen nicht mehr frei und ein Terrorstaat ist entstanden. In beiden Fällen könnte kein demokratischer Staat existieren. Freiheit und Sicherheit müssen friedlich zusammenleben, damit ein Staat demokratisch bleiben kann. Gefährdet das eine Prinzip das andere, so muss es eingeschränkt werden. Somit ist es nach meiner Meinung das Recht und die Aufgabe eines demokratischen Staates in Krisensituationen die Grundrechte seiner Bürger*innen so einzuschränken, dass Freiheit und Sicherheit wieder in einer Balance sind.

27.05.2020

 

Finia Misch

Die Rechte des Staates

Aufgrund der derzeitigen Corona-Pandemie werden viele Grundrechte der Menschen und das öffentliche Leben massiv eingeschränkt, um den Coronavirus so gut wie möglich einzudämmen. Mit Blick auf diese Entscheidungen stellt sich zunehmend die sehr grundlegend ethische Frage, wie weit der demokratische Staat die Grundrechte seiner Bürger und Bürgerinnen in einer Krisensituation einschränken darf. Des Weiteren beschloss das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe nach Klagen eines jüngeren und eines älteren Mannes, dass Bund und Länder in der Coronakrise die Freiheiten junger und gesunder Menschen beschränken dürfen, um anderen mit größeren Risiken mehr Teilhabe zu ermöglichen. Umgekehrt sind die jüngeren Menschen aber nicht verpflichtet, zum Schutz der Risikogruppen auf jegliche Lockerungen zu verzichten.

Im Folgenden, werde ich aus staatsphilosophischer Sicht begründet Stellung zu diesem Urteil sowie der zuvor genannten Frage nehmen.

Bevor ich jedoch auf das Urteil und die Frage zu sprechen komme, möchte ich erst einmal Stellung dazu nehmen, ob der Staat allgemein das Recht dazu hat, die Grundrechte der Bürger einzuschränken.

Augenblicklich werden viele unserer Grundrechte eingeschränkt. So beschränkt zum Beispiel der Kontaktverbot das allgemeine Persönlichkeitsrecht und die häusliche Isolation die Fortbewegungsfreiheit. All diese Maßnahmen stützen sich auf das Infektionsschutzgesetz. Um die Menschen vor übertragbaren Krankheiten zu schützen, darf der Staat also bestimmte Maßnahmen ergreifen. Viele der getroffenen Maßnahmen sind jedoch nicht konkret im Infektionsschutzgesetz geregelt, weshalb man sich auch auf eine sogenannte Generalklausel stützt, wo es heißt, dass die Behörde notwendigen Maßnahmen ergreifen darf. Grundlegend sind die Maßnahmen und Einschränkungen, die der Staat ausführt, somit gerechtfertigt und legal, da sie sich auf ein Gesetz stützen. Doch reicht ein einzelnes Gesetz aus, um die Grundrechte der Menschen an die Seite zu schieben?

Die größte Anstrengung eines demokratischen Staates sollte es sein, das Leben jedes einzelnen Menschen zu retten. Mit den Wahlen von Repräsentanten, die politische Entscheidungen im Sinne des Volkes treffen, haben wir den Schutz unserer Sicherheit und Freiheit auf den Staat übertragen, weshalb dieser alles mögliche tun sollte, um dies umzusetzen. Genau dies möchte der Staat, durch die augenblicklichen Maßnahmen, umsetzen, weshalb es meiner Meinung nach gerechtfertigt ist, für einen bestimmten Zeitraum, bestimmte Grundrechte einzuschränken, um so viele Menschenleben wie möglich zu retten oder schützen. Den höchsten Vorrang im Staat sollte die Sicherheit jedes einzelnen Menschenlebens sein.

Oft wird es auch als kritisch angesehen, dass die vom Staat getroffenen Maßnahmen nur aufgrund von Einschätzungen von Virologen und Experten geführt werden. Ich denke, dass der Staat hier aber auch die richtige Entscheidung getroffen hat, da man, hätte man der Epidemie freien Lauf gelassen, einen viel höheren Anteil an Toten in Kauf genommen hätte. Aus meiner Sicht darf der demokratische Staat somit bestimmte Grundrechte in Krisensituationen einschränken, wenn dies hilft, so viele Menschenleben wie möglich zu schützen. Außerdem ist die Einschränkung unserer Freiheit und Grundrechte ein Ausdruck unseres Eigeninteresses, da wir uns alle vor dem Virus schützen möchten, und somit ein Ausdruck freier und vernünftiger Selbsteinschränkung. Deshalb dürfen, aus meiner Sicht, demokratische Staaten grundlegende Freiheiten unter bestimmten Umständen und für einen limitierten Zeitraum einschränken.

Allerdings bin ich auch der Meinung, dass man zukünftig nicht bei allen Risiken die Freiheitsrechte der Menschen beschränken darf. Dies sollte eine absolute Ausnahme sein und nur geschehen, wenn es die einzige Möglichkeit ist, um für Sicherheit und Schutz der Bürger und Bürgerinnen zu sorgen. Um auf die Frage zurückzukommen, wie weit der demokratische Staat die Grundrechte der Menschen in Krisensituationen einschränken darf, denke ich somit, dass der Staat nur soweit die Grundrechte einschränken darf, wie es notwendig ist, um so viele Menschen wie möglich zu schützen.

Aus meiner Sicht ist die Grenze individueller Freiheit die Achtung vor derselben Freiheit anderer und durch den Coronavirus sind wir mit der Freiheit und dem Wohl aller anderen verbunden.

Rückblickend auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe, denke ich, dass es in Ordnung ist, die Freiheiten junger und gesunder Menschen einzuschränken zum Schutz der Risikogruppen. Jeder Mensch hat das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit und Leben und der Staat sollte es, wie zuvor schon gesagt, als oberste Priorität haben, jedes einzelne Menschenleben zu schützen. Somit dienen die Einschränkungen jüngerer Menschen dem Schutz derjenigen, die stärker gefährdet sind.

Außerdem sollte auch die Risikogruppe eine Möglichkeit haben an der Gesellschaft teilzuhaben und nicht nur diese in ihrer Freiheit begrenzt werden. Somit ermöglicht das Urteil einen Ausgleich beider Parteien, welches ich als sehr gerecht empfinde. Außerdem zeigt dies einen Akt der Solidarität gegenüber älteren und schwächeren Menschen der Gesellschaft. Des Weiteren, ist es sehr wichtig anzumerken, dass das Urteil auch besagt, dass die jüngeren Menschen nicht verpflichtet sind, auf Lockerungen der Freiheitseinschränkungen zu verzichten.

Das Problem, dass sich hier stellen könnte wäre, ob nicht das Grundrecht der Risikogruppe auf Leben und körperliche Unversehrtheit, durch die Lockerungen der Freiheitseinschränkungen, verletzt wird. Dies denke ich jedoch nicht, da die Lockerungen, wie die Kontaktzulassungen auf Abstand, bedingt sind, sodass die Risikogruppe trotzdem geschützt ist und es zu keinen Neuinfektionen kommen sollte. Zwar sollten die jüngeren und gesunden Menschen trotzdem Rücksicht auf die Älteren nehmen, aber auch sie haben ein Recht auf Leben und, wenn der Staat wieder bedingt Lockerungen der Freiheitseinschränkungen zulässt, dann nur so, dass alle Menschenleben trotzdem geschützt sind.

Obwohl der Staat in Krisensituationen alles versuchen sollte, um jedes einzelne Menschenleben zu schützen, sollten die Grundrechte nur so lange eingeschränkt werden, wie es nötig ist. Sieht der Staat eine Möglichkeit diese Einschränkungen zu lockern und trotzdem für Schutz der Risikogruppen zu sorgen, dann sollte dies auch umgesetzt werden, sodass die Freiheiten der Menschen nur in absoluten Notsituationen eingeschränkt werden. Außerdem lässt sich das Bedürfnis nach sozialen Kontakten und mehr Freiheit nicht lange begrenzen, weshalb es vorhersehbar ist, dass individuelle Freiheiten irgendwann wichtiger erscheinen werden als die Risiken. Jede Freiheit stellt ein unaufgebbares Grundgut dar, weshalb der Schutz der Risikogruppen den Anspruch auf Freiheit nicht auf Dauer überwiegt. Deshalb ist es auch wichtig mit der Zeit leichte Lockerungen der Grundrechtseinschränkungen zu bieten, sodass die Grundrechte nicht auf Dauer und nur in Notsituationen beschränkt werden.

Zusammenfassend bin ich also der Meinung, dass der demokratische Staat, in Krisensituationen, die Grundrechte der Menschen so weit beschränken darf, wie es notwendig ist, um so viele Menschenleben wie möglich zu schützen, denn die grundlegende Aufgabe des Staates ist es, für Sicherheit, Freiheit und Schutz der Bürger und Bürgerinnen zu sorgen. Durch den Coronavirus sind wir mit der Freiheit und dem Wohl aller anderen Menschen verbunden, weshalb unsere Freiheit so weit beschränkt werden darf, wie das Wohl anderer Menschen geschützt ist. Sind jedoch Lockerungen der Grundrechtseinschränkungen möglich, die trotzdem den Schutz der Risikogruppe ermöglichen, so sollten diese umgesetzt werden, sodass die Grundrechte der Menschen nur limitiert eingeschränkt werden und auch nur so lange, wie es auch wirklich notwendig ist, um so viele Menschenleben wie möglich zu retten.

27.05.2020

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Unterstützungsschreiben für den vorgeschlagenen neuen Schulnamen Theodor W. Adorno

Adorno am Klavier

1. Prof. Sven Kramer, Literaturwissenschaftler an der Universität Lüneburg:

Sehr geehrter Herr Dr. Müller,

Ihre Überlegung, das Hans-Carossa-Gymnasium in Theodor W. Adorno-Gymnasium umzubenennen, möchte ich nachdrücklich unterstützen.

Adorno war einer der prägenden deutschen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts. Kaum jemand verfügte über ein ähnlich breit gefächertes Wissen wie er. Ausgebildet als Komponist (bei Alban Berg in Wien) und zunächst tätig als Musikkritiker, wurde er zu einem der führenden Musiktheore­tiker seiner Zeit. Bekannt geworden ist er vor allem als Philosoph mit einer weiteren Expertise in der Soziologie. Er war nach dem Krieg Professor für Philosophie und Soziologie in Frankfurt am Main.

Viele seiner Werke stehen weiterhin im Zentrum musikwissenschaftlicher, philosophischer, soziolo­gischer und kulturwissenschaftlicher Debatten. So ist die zusammen mit Max Horkheimer verfasste Dialektik der Aufklärung eines der herausragenden kulturreflexiven Werke des 20. Jahrhunderts. Und so bietet seine Negative Dialektik nach wie vor einen Anknüpfungspunkt für aktuelle erkenntnis­theoretische und moralphilosophische Grundbestimmungen. Hinzu kommen die Schriften über Ästhetik und viele weitere Themen. Adorno hat seinerzeit Rundfunkbeiträge verfasst, die auch heute noch für Schülerinnen und Schüler eine orientierende Funktion übernehmen können, zum Beispiel „Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit“ oder „Erziehung nach Auschwitz“.

Mit dem Nationalsozialismus ist eine historische Konstellation angesprochen, die Adorno im beson­deren Maße betraf. Da er einen jüdischen Vater hatte, fiel er im rassistischen Denken der National­sozialisten unter das Verdikt des „Halbjuden“. Er war zunehmend von Verfolgung bedroht und ging deshalb ins amerikanische Exil. Nach dem Krieg kehrte er 1949 nach Frankfurt zurück und begriff seine Aufgabe als Intellektueller in dem Sinne, dass er für die Demokratisierung durch Aufklärung arbeiten wollte. Dieses Leitbild – sich der eigenen Vernunft in Freiheit zu bedienen – knüpft an die großen aufklärerischen Traditionen der Moderne, etwa bei Kant, an. Das Votum für die Demokratie ist nicht zuletzt seiner Erfahrung in den USA und seiner Kritik an der Sowjetunion geschuldet.

Alle diese Faktoren scheinen mir für Schülerinnen und Schüler wertvolle Orientierungen zu bieten, die der Name des Gymnasiums signalisieren würde. Deshalb unterstütze ich Ihren Vorschlag nachdrücklich.

Ich selbst übrigens habe Adorno zum ersten Mal in einem Leistungskurs Musik in Hamburg gelesen – und zwar ein Kapitel aus seiner „Einleitung in die Musiksoziologie“. Ich erinnere mich noch, wie ich das Fremdwörterbuch konsultiert habe, um Wörter wie „adäquat“ usw. nachzuschlagen. Wie sich dann schon bald im Studium zeigte, ging trotz seines Schwierigkeitsgrads eine nachhaltige Wirkung vom Denken Adornos auf mich aus. Ich weiß von anderen, dass es ihnen ähnlich ging und ziehe daraus meine Überzeugung, dass Adorno in den höheren Klassen des Gymnasiums unbedingt gelesen und diskutiert werden sollte.

Mit freundlichen Grüßen,

gez. S. Kramer

 

 

INSTITUT FÜR PHILOSOPHIEDIREKTOR Prof. Dr. Johann KreuzerCARL VON OSSIETZKY UNIVERSITÄT OLDENBURG · 26111 OLDENBURGStellungnahme zum Vorschlag,das Hans-Carossa-Gymnasium in ADORNO-GYMNASIUMumzubenennenTheodor W. Adorno war eine der prägenden intellektuellen Gestalten in der frühen Geschichte der Bundesrepublik. Insbesondere in den 60er-Jahren ist sein Beitrag zur kritischen Selbstreflexion kultureller Erfahrung von entscheidender Bedeutung und unverzichtbarer Bestandteil der Identitätsbildungsprozesse, auf denen das Selbstverständnis dieser Republik bis heute beruht.Mittlerweile ist der Abstand zur Realgeschichte dieser Zeit groß genug, so daß das Vorhaben, ein Gymnasium nach ihm zu benennen, nicht mehr tagespolitisch mißverstanden oder mißdeutet werden könnte. Es scheint vielmehr an der Zeit, dadurch an eine der intellektuellen Gründergestalten der BRD zu erinnern. Es stünde einem Gymnasium gut an, sich durch seinen Namen der kritischen Reflexion lebensweltlicher Erfahrung verpflichtet zu wissen.Die Adorno-Forschungsstelle am Institut für Philosophie der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg sieht die produktive Fortschreibung der vom Werk Adornos ausgehenden Denkimpulse als ihre Aufgabe an. Als deren Leiter kann ich die Initiative, das Hans Carossa Gymnasium in Theodor W. Adorno-Gymnasium umzubenennen, nur nachdrücklich unterstützen. Es wäre ein gutes Signal und sehr zu begrüßen, wenn dieses Vorhaben realisiert werden könnte.Mit besten Empfehlungen,………………………………(Prof. Dr. Johann Kreuzer)

 

Prof. Dr. Stefan Müller-Doohm, Soziologe an der Universität Oldenburg:

Adorno zählt zu den international bedeutendsten Philosophen des 20. Jahhunderts, dessen umfangreiches Werk in den Bereichen der Musiktheorie, Philosophie, Kultur- und Literaturkritk sowie Soziologie nach wie vor aktuell ist. Das wird von einer lebhaften Rezeption der kritischen Theorie Adornos bezeugt. Obwohl Bedeutung und Aktualität unbestritten sind, gibt es vergleichsweise wenige öffentliche Bekundungen, die diesem Gelehrten die Ehre antuen, sich seiner in angemessener Weise zu erinnern.
Einer Schule den Namen Theodor W. Adorno zu geben, wäre nicht nur ein sinnvoller Akt der symbolischen Anerkennung des genialen Denkers und öffentlichen Intellektuellen, sondern würde auch zum Ausdruck bringen, dass er einer der ersten war, der die Frage der „Erziehung nach Auschwitz“ zum Thema gemacht und zugleich durch seine Publikationen zu diesem Gegenstand zahlreiche pädagogische Reflexionen angestoßen hat.
Als Gründer der „Adorno-Forschungsstelle“ an der Carl von Ossietzky Universität und Autor der Adorno-Biographie begrüße ich ausdrücklich die Initiative von Herrn Ulrich Müller.

Prof. Dr. Stefan Müller-Doohm                                           09.07.2015    16:44 Uhr

 

 

Herrn Henning Rußbült

Schulleiter des Hans-Carossa-Gymnasiums

Am Landschaftspark Gatow 40

14089 Berlin

 

 

 

Institut für Kunst und Kulturwissenschaften

Lehrstuhl für Philosophie und ästhetische Theorie

Univ. Prof. Dr. Ruth Sonderegger

Schillerplatz 3

A-1010 Wien

 

T + 43 (1) 588 16 – 8413

T + 43 (1) 588 16 – 8101

F + 43 (1) 588 16 – 8199

 

r.sonderegger@akbild.ac.at

www.akbild.ac.at

 

 

 

 

 

Wien, am 3. September 2015

Sehr geehrter Herr Rußbült,

Ich wende mich an Sie, nachdem Herr Müller, der an Ihrem Gymnasium unterrichtet, mir vom Projekt erzählt hat, das Hans-Carossa-Gymnasium in „Adorno-Schule“ umzubenennen. (Ich kenne Herrn Müller, weil wir beide Beiträge für das Adorno-Handbuch geschrieben haben, das beim Metzler Verlag demnächst schon in der 2. Auflage erscheint.)

Ich unterstützte die Bestrebungen, statt Hans Carossa den Philosophen Theodor W. Adorno zum Namensgeber so zentraler Institutionen zu machen, wie Schulen es in unserer Gesellschaft nun einmal sind, mit großem Nachdruck. Von Carossa ist bekannt, dass er im Nationalsozialismus wichtige kulturelle Funktionen innehatte – er gehörte zu den von Hitler als „gottbegnadet“ geadelten Künstlern –, von denen er sich öffentlich nie distanziert hat; und wie weit seine sog. innere Immigration ging, ist von außen schwer zu sagen. Doch ein Vorbild Schüler_innen und Lehrer_innen ist er ganz gewiss nicht.

Adorno ist von einem ganz und gar anderen Format – geradezu der Inbegriff eines nonkonformistischen Intellektuellen, der nicht ohne Grund während der Zeit des Nationalsozialismus in das Exil gezwungen wurde. Das hat Adorno nicht davon abgehalten, schon kurz nach dem zweiten Weltkrieg wieder zurück nach Deutschland zu kommen, weil es gerade hier für kritische Menschen, die für das Weiterleben der faschistischen Denkweise ein feines Sensorium hatten, unendlich viel zu tun gab.

Adorno engagierte sich nicht nur als Hochschullehrer an der Universität Frankfurt und als Volksbildner über das Radio in ganz Deutschland. Er hat auch beeindruckende Studien zu Fragen der Pädagogik vorgelegt und sich unermüdlich für die „Erziehung nach Auschwitz“, so der Titel eines seiner Aufsätze, eingesetzt. Somit ist Adorno also dafür prädestiniert, dass man in Bildungsinstitutionen an ihn anknüpft. Von ihm können Schüler_innen auch in der heutigen post-faschistischen und post-migrantischen Kultur unendlich viel mehr lernen als von Hans Carossa.

Vor diesem Hintergrund können Sie sich sicher denken, dass ich mich sehr freuen würde, wenn sie die Namensänderung Ihrer Schule unterstützen würden. Es soll hier jedoch nicht um mich gehen. Ich denke vielmehr, dass es im und für das heutige Berlin ein starkes Zeichen wäre, wenn Ihre Schule, die ja für innovative Unterrichtsformen bekannt ist, auch schon in ihrem Namen klarstellen würde, wofür sie steht.

Für weitere Auskünfte stehe ich Ihnen jederzeit sehr gerne zur Verfügung.

Mit freundlichen Grüßen

Ihre

(Prof. Dr. Ruth Sonderegger)

 

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Das Gute in Moral und Recht und was daraus für pädagogisches Handeln folgen muss

Von Ulrich Müller

Das gute und das böse Prinzip, Mosaik 1956, von Heinz Klima, Ecke Steinbauergasse/Böckhgasse, Wien-Meidling

Abstract:

Grundbedingung jeder rationalen Ethik ist ein Konzept des moralisch Guten. Denn nur, wer eine verlässliche Vorstellung davon besitzt, was gutes Handeln ausmacht, kann sich moralisch angemessen verhalten. Für Kant ist das Gute ein Handeln nach dem Kategorischen Imperativ. Danach ist die widerspruchsfreie Universalisierbarkeit von Verhaltens- und Lebensregeln das Hauptkriterium guten Handelns. Ich halte diesen Ansatz (u.a. mit Patzig) für prinzipiell richtig, aber in sozialer Hinsicht (u.a. mit Adorno) für konkretisierungs- und präzisierungsbedürftig. M.E. müsste ein praktikables Moralgesetz in folgender Transformation von Kants „Menschheitszweckformel“ bestehen: „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlungen und Lebensweisen verträglich sind mit einem dauerhaft freien und friedlichen Zusammenleben von Menschen auf der Erde.“ Das mit diesem „sozialen Imperativ“ bezeichnete Gute lässt sich in moralischer und rechtlicher Hinsicht ausdifferenzieren: Das moralisch Gute sei die notwendige Förderung von Frieden und Freiheit in einer moralisch relevanten Situation, in der andere Menschen eben dies für sich selber nicht können. Das rechtlich Gute dagegen sei die Bewahrung von Frieden und Freiheit in einer nicht-moralischen Situation. Jede unnötige Gefährdung dieser Grundprinzipien bezeichnet moralisch wie rechtlich das Böse. Besonderer Fall: Wenn beide Prinzipien miteinander kollidieren, muss eine reflexive Güterabwägung darüber entscheiden, welches von beiden zu verletzen ist. Folgerichtig muss pädagogisches Handeln eine Erziehung zu Frieden und Freiheit sein: Die Schüler müssen den ethischen Status und das Junktim beider Grundwerte erkennen (moralisch-rechtliche Kompetenz), sensibel für deren wirkliche und mögliche Gefährdung (politisch-soziale Kompetenz) sowie bereit und erfinderisch für deren notwendige Förderung (praktisch-motivationale Kompetenz) werden.

In dem folgenden Beitrag möchte ich mein Konzept praktischer Philosophie erläutern, das in kritischer Auseinandersetzung mit Immanuel Kants Ethik entwickelt ist. Wie der Titel schon verrät, werde ich versuchen, einen Begriff des Guten wenigstens zu skizzieren und für die Bereiche Recht (1.), Moral (2.) und Pädagogik (3.) verschieden auszuformulieren. Dabei wird sich einerseits zeigen, dass die Menschenrechte das normative Zentrum des Kantischen Freiheitsbegriffs bilden und in der moralischen Idee der Menschheit in uns allen begründet sind. Andererseits kann dieser menschenrechtlich zentrierte Freiheitsbegriff nur dann gesichert zur Geltung gebracht werden, wenn er mit einem politisch ausgerichteten Friedensbegriff zusammengedacht wird, dessen Kern in prinzipieller, aber nicht kategorischer Gewaltlosigkeit besteht. Dementsprechend muss sich moralische Erziehung auf die Reflexion und Anwendung der grundlegenden Wertprinzipien Frieden und Freiheit konzentrieren.

1. DAS KRITERIUM DES RECHTLICH GUTEN

1.1 Universalismus und Humanität

Das Kantische meiner Konzeption besteht im Wesentlichen aus zwei Momenten: das erste ist der ethische Universalismus. Dies bedeutet: Eine gegenwartstaugliche Moralphilosophie muss prinzipiell für alle Menschen Gültigkeit beanspruchen. Ansonsten ist sie unter den Bedingungen von Aufklärung, Globalisierung und Pluralismus m.E. nicht mehr konkurrenzfähig. Ein ethischer Kulturrelativismus etwa, der befiehlt, jeder solle der in seiner Gesellschaft herrschenden Moral folgen, verwickelt sich in Widersprüche: 1. Wenn die in einer bestimmten Kultur herrschende Moral verlangt, andere Kulturen nach diesen Maßstäben zu missionieren, ist es unmöglich, ihrer Regel, dass alle der bei ihnen herrschenden Moral folgen sollen, zu folgen, weil man sie ja gemäß der eigenen Moral gerade davon abzubringen versucht. 2. In unseren pluralistischen Gesellschaften existiert nicht eine herrschende, sondern konkurrieren mehrere einander widersprechende Moralauffassungen miteinander, von denen nicht klar ist, für welche dann votiert werden soll (Spaemann, Robert 1999: 13-18).

Das andere von mir verwendete Theoriemoment Kants ist der Gedanke der Humanität als normativer Begründungsanker oder, wie Christine Korsgaard es ausdrückt, „Quelle der Normativität“ (Korsgaard 2013). So fordert Kant in der „Menschheitszweckformel“ des kategorischen Imperativs: „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person als auch in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest“ (Kant 1978a: 61). Während die Grundform dieses Imperativs: „handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“ (Kant 1978a: 51) hauptsächlich die Verallgemeinerbarkeit einer moralischen Norm als ethischen Mindeststandard verlangt, befiehlt die Menschheitszweckformel darüber hinaus, ein Ideal menschlicher Beziehungen anzustreben. Und dieses Ideal ist in der „Selbstzweckhaftigkeit“ menschlicher Wesen begründet.

Doch was genau haben wir unter dieser „Selbstzweckhaftigkeit“ oder, wie Kant auch sagt, dem „absoluten Wert“ jedes vernünftigen Wesens zu verstehen? Anders gefragt, durch welche Prinzipien ist diese als unbedingter Wert definierte Humanität, eben jene „Menschheit“ in allen Einzelpersonen, bestimmt?

1.2 Menschenrechte und Individualität

Ich meine, dass wir hier in Übereinstimmung mit Kant das Prinzip der Freiheit als Autonomie anführen können, dass wir es aber noch etwas anders und umfangreicher ausführen müssen, als Kant dies getan hat. Ich sehe zwei zentrale Dimensionen der Freiheit, von denen die erste auf jeden Fall vorrangig ist: 1. Als Kernbereich die Menschenrechte, deren wichtigste ja auch Freiheitsrechte heißen; 2. Als weiteren Bereich die individuelle Persönlichkeitsentfaltung. Wir könnten nun darüber streiten, inwieweit zu den Menschenrechten auch Eigentumsrechte und soziale Rechte, wie das Recht auf Arbeit, gehören. Unstrittig jedoch dürften Meinungs- und Religionsfreiheit sein, erst recht körperliche Unversehrtheit und überhaupt Leben, ohne das Freiheit ja gar keinen Sinn ergibt. Anders gesagt, ohne Menschenrechte kann es keine Freiheit, die diesen Namen verdient, geben. Die Absteckung des Individualisierungsbereichs ist da insofern schwieriger, als das Problem der Vereinbarkeit vieler individueller Freiheiten miteinander gelöst werden muss. In welchem Ausmaß kann ein persönlicher Lebensstil von allen legitim beansprucht werden und wo stößt er an nicht zu verletzende Grenzen? Eine Minimalbedingung für die Freiheitsseite der gelebten Individualität ist gewiss die Unantastbarkeit des Freiheitszentrums. Denn dort, wo Menschenrechte verletzt werden, kann es keine Individualitätsentfaltung für alle geben. Der umgekehrte Fall, die Wahrung der Menschenrechte bei gleichzeitiger Verhinderung individueller Entfaltung, wäre zwar theoretisch denkbar, etwa in extrem armen Ländern ohne Hungersnot oder in traditionalistisch uniformen Erziehungskulturen, ist aber in der Praxis selten anzutreffen.

1.3 Der soziale Imperativ

In Rechtsstaaten mit einer funktionierenden Demokratie stellt sich das Problem der Vereinbarkeit inhaltlich verschieden gedeuteter und konkretisierter Freiheiten. Anders als Kant meine ich nun, dass Freiheitskollisionen nicht nur staatlich und juristisch geregelt, sondern zuerst moralisch bedacht und entschieden werden müssen, so wie auch eine freiheitliche Gesetzgebung auf freiheitsmoralischen Grundlagen errichtet werden sollte. Andernfalls bestünde immer die Gefahr, dass die von den BürgerInnen nur widerwillig akzeptierten Zwangsgesetze schleichend unterwandert werden, z.B. durch Korruption und Missbrauch. Doch nach welchem Grundsatz kann eine vernünftige moralische Beurteilung individueller Freiheitsgrenzen im menschlichen Zusammenleben erfolgen?

Liebe Leserin und lieber Leser, zur Beantwortung dieser Schlüsselfrage möchte ich Ihnen nun die folgende erste Fassung eines Moralgesetzes vorschlagen, das ich wegen seines lebensweltlichen Anwendungsfeldes „sozialer Imperativ“ nenne:

(a) Handle und lebe so, dass deine Handlungen und Lebensweisen, einschließlich ihrer vorhersehbaren Folgen, deine eigene wie die Freiheit deiner Mitmenschen nicht gefährden und, falls nötig und möglich, auch retten oder fördern.

Die Unterschiede meines neuen Imperativs zu Kants Ethik sind nun allerdings nicht mehr zu übersehen. Zunächst fasse ich Freiheit als nicht nur persönlichen, sondern ebenso sehr als sozialen Wert auf, der das Zusammenleben der Menschen in diesem Sinne orientieren soll. Das heißt, die unbedingte Forderung, Freiheit zu schützen und, wenn nötig, auch zu stärken, bezieht sich nicht nur auf das Verhalten zu anderen Personen, sondern genauso auf alle nur denkbaren Formen menschlichen Zusammenlebens. Der Einzelne hat eine Verantwortung auch für die freiheitskompatible Struktur einer Familie, einer Freundesgruppe, eines Vereins und schließlich eines Staates. Dadurch wird Freiheit nun auch, wenngleich nicht nur(!), zu einem quantifizierbaren Gut, das wir als empirischen Leitfaden dafür verwenden können, welche Gesellschaften sich bis zu welchem Grad schon entwickelt haben und welche sich freiheitlich, d.h. nach Maßgabe von Menschenrechten und individuellen Entfaltungsmöglichkeiten, noch verbessern müssen.

Eine weitere Abweichung von Kants Konzeption sehe ich in der ausdrücklichen Einbeziehung vorhersehbarer Folgen in die Handlungs- oder Lebensentscheidung. Allerdings habe ich noch nie verstanden, wie wir nach Kants Grundformel prüfen sollen, ob wir eine Maxime verallgemeinern „wollen können“, wenn wir dabei nur auf die Widerspruchsfreiheit achten und nicht auch nach den wünschenswerten Auswirkungen unseres Handelns fragen, also danach, wie die Welt und unser Zusammenleben in ihr aussähe, wenn alle Menschen z.B. Bettlern helfen, vegan leben oder ein soziales Jahr absolvieren würden. Eine verantwortungsvolle Anwendung des Grundprinzips Freiheit verlangt m.E. immer eine antizipierende Reflexion der Handlungsfolgen.

Des Weiteren unterscheidet sich der soziale vom kategorischen Imperativ darin, dass er Ausnahmen zulässt, sofern sie durch eine Güterabwägung gerechtfertigt sind, z.B.: Welche Freiheit wiegt bei der Entscheidung, ob Tom sein Haus verkaufen soll, schwerer, besser gesagt, welche ist mehr wert, seine eigene, daraus resultierende finanzielle Unabhängigkeit, der von seinen Kindern in diesem Haus genossene Bewegungsfreiraum oder die Veränderungslust seiner Ehefrau? Es ist klar, dass Freiheit hier nicht nur quantifiziert werden darf, denn dann wäre der Hausverkauf beschlossene Sache, sondern dass die verschiedenen individuellen Freiheiten auch in ihrem jeweiligen Eigengewicht bewertet werden müssen, denn sonst hätten Toms Kinder überhaupt keine Chance.

Ein letzter systematischer Unterschied zu Kant liegt in meiner Unterscheidung der beiden Fälle, 1. Nicht-Gefährdung und 2. Förderung von Freiheit, während Kants Menschheitszweckformel nur den einen Fall des „Sowohl als auch“, bzw. „Zugleich“ von Mittel- und Selbstzweckbehandlung kennt. Auf die Frage, wann es nötig ist, Freiheit aktiv zu fördern, und wann deren beachtete Nicht-Gefährdung ausreicht, komme ich sogleich zurück.

1.4 Die Verbundenheit von Frieden und Freiheit

Zuvor jedoch möchte ich meinen sozialen Imperativ noch um ein zweites wichtiges Grundprinzip erweitern, und zwar aus folgender Überlegung heraus: Freiheit, sowohl in der zentralen Bedeutung der Menschenrechte als auch in der nachgeordneten Bedeutung individueller Entfaltung, kann nur unter friedlichen Bedingungen dauerhaft bestehen und wachsen. Im offenen oder kalten Krieg ist weder die Bewahrung noch die Förderung, bzw. Rettung von Freiheiten möglich – jedenfalls nicht für alle. Daraus ziehe ich den Schluss, dass der soziale Imperativ eine zweite Wertkomponente „Frieden“ enthalten muss, um ein gutes menschlichen Zusammenleben richtig anleiten zu können. Diese Implantation des Friedensprinzips in das Moralgesetz ist wiederum nicht-kantisch, sie erfolgt jedoch durchaus im Geiste Kants, der in seiner Spätschrift „Zum ewigen Frieden“ aus dem Jahre 1795 Frieden zu einem apriorischen Grundbegriff der politischen Philosophie macht.

Was Kant in dieser Schrift, menschenrechtlich gesehen, Neues auf den Weg bringt, ist, kurz gesagt, Folgendes: Indem er Staaten analog zu Individuen betrachtet, die ein angeborenes moralisches Recht auf Leib, Leben und körperliche Unversehrtheit haben, richtet er ein neuartig adressiertes Menschenrecht auf. „Es besteht in einem Menschenrecht von Staaten“ (Höffe 2011: 82), das deren Recht auf territoriale Unversehrtheit sowie auf politische und kulturelle Selbstbestimmung umfasst.

Aus dieser menschenrechtlich begründeten politischen Forderung folgt für Kant zwingend eine weitere, um das staatliche Menschenrecht einerseits zu schützen und andererseits zwischenstaatlich kompatibel zu machen: „Für Staaten im Verhältnis untereinander kann es nach der Vernunft keine andere Art geben, aus dem gesetzlosen Zustande, der lauter Krieg enthält, herauszukommen, als daß sie ebenso wie einzelne Menschen ihre wilde (gesetzlose) Freiheit aufgeben, sich zu öffentlichen Zwangsgesetzen bequemen und so einen Völkerstaat […] bilden“ (Kant 1978b: 212).

1.5 Der sozialrechtliche Imperativ

Kants vernünftige politische Lösung des Freiheitsproblems darf m.E. nicht nur für den staatlichen Gesetzgeber gelten, sie muss auch einen Rückhalt in den Einstellungen der Individuen besitzen. Ohne deren moralische Überzeugung, dass Frieden der oberste Wert allen zwischenmenschlichen wie zwischenstaatlichen Handelns sein muss, und ohne das unbedingte Eintreten aller StaatsbürgerInnen für friedliche Konfliktlösungen könnte auch eine demokratisch gewählte Regierung jederzeit in den Krieg als Mittel der Durchsetzung politischer Ziele zurückfallen. Daher müssen Kants richtige politische Forderungen nach allgemeingültigen staatlichen Gesetzen und nach einer Staatengemeinschaft m.E. von der juridischen auf die moralische Ebene rückübersetzt werden. Und daraus ergibt sich nun folgende „friedensfreiheitliche“ Ergänzung meines oben aufgestellten sozialen Imperativs:

(b) Handle immer so, dass die Wirkungen deiner Handlungen und Lebensweisen verträglich sind mit einem dauerhaft freien und friedlichen Zusammenleben von Menschen auf der Erde. Oder, negativ ausgedrückt: Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlungen und Lebensweisen ein dauerhaft freies und friedliches Zusammenleben von Menschen auf der Erde nicht gefährden. Vereinfacht gesagt: Handle so, dass deine Absichten immer auch ein wirklich humanes Zusammenleben einschließen. Negativ gefasst: Gefährde nicht die Bedingungen für ein wirklich humanes Zusammenleben.

 

2. DAS KRITERIUM DES MORALISCH GUTEN

2.1 Der sozialmoralische Imperativ

Die soeben aufgestellte Fassung des sozialen Imperativs bezeichnet nun für mich das Kriterium des rechtlich Guten. Sie repräsentiert also den Grundsatz eines rechtlich guten Zusammenlebens in normalen, d.h. solchen nicht-moralischen Situationen, in denen Frieden und Freiheit nicht akut gefährdet sind. Wie kann nun demgegenüber das moralisch Gute bestimmt werden? Klar ist: es muss das grundlegende Gesetz eines moralisch guten Zusammenlebens sein, das für moralische, d.h. solche Situationen gilt, in denen Frieden oder Freiheit verletzt, bzw. akut gefährdet sind, sodass sie aktiv gefördert werden müssen. Das Gesetz lautet so:

(c) Handle, wenn nötig und möglich, so, dass die Wirkungen deiner Handlungen und Lebensformen ein dauerhaft freies und friedliches Zusammenleben von Menschen auf der Erde fördern, bzw. retten. Negativ gewendet: Verhindere Gefährdungen eines dauerhaft freien und friedlichen Zusammenlebens von Menschen auf der Erde. Vereinfacht gesagt: Handle so, dass deine Absichten ein wirklich humanes Zusammenleben fördern, bzw. retten. Negativ gefasst: Verhindere Gefährdungen eines wirklich humanen Zusammenlebens.

Das in diesem Imperativ verwendete ethische Doppelprinzip nenne ich auch einen „siamesischen Zwilling“, da weder Frieden ohne Freiheit, noch Freiheit ohne Frieden dauerhaft überlebensfähig sind. Frieden ohne Freiheit wäre entweder bloßer Waffenstillstand oder Unterdrückung; und Freiheit ohne Frieden wäre entweder ein gnadenloser Kampf aller gegen alle, also eine Art Bürgerkrieg, oder die Freiheit der wenigen, die vom herrschenden Krieg profitieren.

Kurz gesagt: Der nicht zu verletzende Kern des Freiheitsprinzips sind die Menschenrechte, das unantastbare Zentrum des Friedensprinzips ist die Gewaltlosigkeit, wobei ich hier durchaus mit Hannah Arendt nicht legitime Gewalt von legitimierter Macht unterscheiden möchte (Arendt 1970: 53). Insofern ist der Friedensuniversalismus auch kein Radikalpazifismus.

2.2 Die anthropologische Begründung des sozialmoralischen Imperativs

Liebe Leser/innen, ich denke, zur Begründung des Zusammenhangs beider Grundprinzipien mit der Humanität genügen an dieser Stelle folgende Erläuterungen: Wir können uns kein vernünftiges Wesen vorstellen, das dauerhaft unterdrückt, eingesperrt, geknechtet, diskriminiert oder bevormundet sein will, ohne die begründete Aussicht zu besitzen, durch diesen unfreien Zustand in absehbarer Zeit einen viel freieren Zustand zu erlangen; und wir können uns genauso wenig vernünftige Wesen denken, die permanent dem Leid und den Schrecken eines Krieges ausgesetzt sein wollen, ohne die realistische Aussicht auf dauerhaften und stabilen Frieden zu haben. Die derart anthropologisch begründbare Gültigkeit des Doppelprinzips beschreibt m.E. die soziale Normativität der praktischen Vernunft, die Kant ja nicht in einer eigenen „Kritik der sozialen Vernunft“ thematisiert hat.

 

3. DAS KRITERIUM DES PÄDAGOGISCH GUTEN

3.1 Erziehung zu Frieden und Freiheit

Was folgt nun aus dem sozialen Imperativ für das pädagogische Handeln? Vor allem anderen müsste pädagogisches Handeln eine Erziehung zu den höchsten Werten Frieden und Freiheit sein. Ich meine dies nicht etwa nur im Sinne eines themenbezogenen Unterrichts, sondern als umfassende Ausrichtung aller pädagogischen Anstrengungen.

Zunächst geht es darum, den absoluten Eigenwert der beiden Grundprinzipien einsichtig zu machen und von ihrer bloßen Nützlichkeit abzugrenzen. Den SchülerInnen muss klar werden, dass „friedensfreiheitliches“ Handeln in einem beständigen Streben nach dem Guten und nicht in der Förderung von Vorteilen und Bequemlichkeiten besteht. Anhand von Hilfesituationen etwa, in denen die Gesundheit oder sogar das Leben anderer Menschen bedroht ist, dürfte am überzeugendsten zu verdeutlichen sein, was es heißt, eine Pflicht zu haben oder, wem dieses Wort zu altbacken klingt, ein Sollen zu erfahren, dem unbedingt zu folgen ist, und zwar nicht aus strafrechtlichen, sondern allein aus humanitären Gründen.

3.2 Moralische Erziehung ist auf Begriffe, nicht auf Gefühle zu gründen

Zu vermeiden ist dagegen eine moralische Erziehung, die den Kindern Gefühle wie Mitleid (z.B. mit Kriegsopfern) oder Bewunderung (z.B. für Heilige und Helden der Befreiung) antrainiert, um sie zu verdienstvollen Taten zu inspirieren, statt zur Pflichterfüllung. Worauf es eigentlich ankommt, ist, sie zur Befolgung eines humanen Sollens anzuhalten. Beispiele wie Gandhi oder Mutter Theresa haben im Ethikunterricht durchaus ihre Berechtigung, sofern deren Handlungen unter dem Aspekt der Humanität, d.h. der Förderung, bzw. Rettung von Frieden und Freiheit analysiert werden. Nicht die (historische oder politische) Größe einer Person, sondern die humane Vernünftigkeit ihres Tuns ist das entscheidende moralpädagogische Eignungskriterium. Allgemeiner gesagt: Nicht auf Gefühle, vielmehr auf Begriffe muss moralische Erziehung gegründet sein.

Die Freiheit betreffend, halte ich für besonders wichtig das Erlernen des Selberdenkens und die Ausbildung einer selbstständigen Orientierungsfähigkeit in der Welt. Deshalb hat Adorno Recht, wenn er sagt, „Erziehung wäre sinnvoll überhaupt nur als eine zu kritischer Selbstreflexion“ (Adorno 1997: 676). Eben diese kann durch den regelmäßigen Einsatz schülerzentrierter Methoden (z.B. nach Wolfgang Klippert: 2002) auf den Weg gebracht werden, um kommunikative und reflexive Kompetenzen zu fördern und damit die persönliche wie soziale Freiheit zu erweitern. Das heißt, wir müssen immer schon etwas Freiheit bei den Schülerinnen und Schülern voraussetzen, um eine Reform-Pädagogik der kleinen Schritte zur moralischen Freiheitserweiterung auf den Weg bringen zu können. So kann das eigenverantwortliche Lernen gefördert werden. In diesem Sinne deutet z.B. die Umstellung der Rahmenlehrpläne für Schulen in Berlin-Brandenburg von konkreten Lernzielen auf allgemeinere Kompetenzen durchaus in die richtige Richtung. Denn prinzipiell kann ja in allen Schulfächern erfahrbar gemacht werden, was ein autonomes Verfügen-Können über ein Sachgebiet bedeutet und wert ist, im Unterschied etwa zum bloßen „Pauken“ von Daten.

Das Friedensprinzip betreffend ist es natürlich vor allem wichtig, die gewaltfreie Lösung von Konflikten im Umgang miteinander einzuüben und zur Selbstverständlichkeit werden zu lassen. Zur Erlangung und Verstärkung dieser Schlüsselkompetenz des Verhaltens habe ich mit Rollenspielen sehr gute Erfahrungen gemacht. Die SchülerInnen müssen den ethischen Status des Friedensprinzips hautnah erleben und anschließend reflektieren. Dadurch werden sie einerseits sensibilisiert für wirkliche und mögliche Friedensgefährdungen im Lebenszusammenhang, d.h. sie erwerben politisch-soziale Kompetenz, sowie bereit und erfinderisch für die notwendige Förderung und Entwicklung von Lösungsstrategien für Konflikte wie für Konfliktpräventionen, d.h., sie erlangen praktisch-motivationale Kompetenz.

3.3 Fachdidaktische Hinweise

Im Fachunterricht Ethik, bzw. Philosophie sind Auseinandersetzungen mit Dilemmata-Situationen besonders wertvoll, weil sie nicht nur die Verbundenheit von Frieden und Freiheit, sondern auch die Möglichkeit der wechselseitigen Einschränkung, bzw. Verletzung dieser Grundprinzipien deutlich machen. Dadurch kann die moralische Urteilskompetenz der SchülerInnen erweitert werden.

Das Freiheitsprinzip könnte fächerübergreifend, etwa anhand geeigneter Romane im Deutschunterricht, durch Thematisierung verschiedener Freiheitskonzepte von Kant bis Sartre im Philosophieunterricht, der Befreiungstheologie im Religionsunterricht, der Geschichte der Menschenrechte im Politikunterricht oder auch anlässlich einer neurowissenschaftlichen In-Frage-Stellung der Freiheit im Fach Biologie behandelt werden.

Das Friedensprinzip wiederum sollte durch Unterrichtsreihen zum gewaltlosen Widerstand, zu Fremdenfeindlichkeit, Rassismus oder religiöse Toleranz, aber ggf. auch durch praktische Übungen mit Experten für Konfliktlösung oder Gewaltprävention in den Hirnen, Herzen und Händen der Schüler verankert werden.

3.4 Fazit: Der moralpädagogische Imperativ

Wie Spinoza schon sagte, „Friede ist nicht die Abwesenheit von Krieg: Friede ist eine Tugend, eine Geisteshaltung, eine Neigung zu Güte, Vertrauen und Gerechtigkeit“. Ich zumindest interpretiere diesen Satz so,

(d) dass die Sicherung wie Förderung von Frieden und Freiheit nicht allein demokratischen Regierungen überlassen werden darf, sondern von der moralischen Grundüberzeugung aller Bürger/innen getragen werden muss.

Und das ist, meine ich, die erste Forderung an Erziehung.

 

 


Text eines Vortrags, den ich am 14. November 2014 im Rahmen der Tagung für Praktische Philosophie an der Universität Salzburg gehalten habe. Für wertvolle Hinweise in der Diskussion danke ich Marie-Luise Raters und Heiner Bielefeldt.

 

Siehe dazu etwa den Capability-Ansatz von Amartya Sen: 2011.

 

Allerdings spricht sich Gerold Prauss zurecht, wie ich meine, dafür aus, auch für Kants Menschheitszweckformel 3 Fälle zu unterscheiden: 1. Der Fall des Bösen, „sich nur als Mittel zu behandeln“; 2. Der Fall eines ersten Guten, „nicht sich nur als Mittel, sondern auch als Selbstzweck zu behandeln“; 3. Der Fall eines zweiten Guten, sich „nur als Selbstzweck, also nicht mehr auch als Mittel zu behandeln“[iii]. Das der Kantischen Formulierung entsprechende erste Gute (2.) versteht Prauss als „das Minimum“, das zweite Gute (3.) hingegen als „das Maximum an Zuwendung, das als Behandlung eines Subjekts durch ein [anderes, U.M.] Subjekt jeweils nötig werden kann“, Prauss 2008, 68-69.

 

Vgl. Müller 2013, 53-59, wo ich noch keine Differenzierung zwischen der moralisch guten und der rechtlich guten Dimension des sozialen Imperativs verwende.

 

„Friedensakademie Linz“, http://www.friedensakademie.at (Zugegriffen am: 29.10.2014).

 

Literatur:

 

Adorno, Theodor W. 1997: Erziehung nach Auschwitz. In: Adorno, Theodor W. Kulturkritik und Gesellschaft, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

Arendt, Hannah 1970: Macht und Gewalt, München: Piper.

Höffe, Otfried 2011: Immanuel Kant. Zum ewigen Frieden, Berlin: Akademie Verlag.

Friedensakademie Linz 2014: http://www.friedensakademie.at.

Kant, Immanuel 1978 a: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Kant, Immanuel 1978 b: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Klippert, Wolfgang 2002: Eigenverantwortliches Arbeiten und Lernen. Bausteine für den Fachunterricht, Weinheim und Basel: Beltz.

Korsgaard, Christine 2013: The Sources of Normativity, Cambridge: University Press.

Müller, Ulrich 2013: Frieden und Freiheit. Eine Kritik der sozialen Vernunft, Würzburg: Königshausen & Neumann.

Prauss, Gerold 2008: Moral und Recht im Staat nach Kant und Hegel, Freiburg/München: Alber.

Sen, Amartya 2011: Ökonomie für den Menschen. Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft, München: dtv.

Spaemann, Robert 1999: Moralische Grundbegriffe, München: Alber.

 

Was heißt „sich im Leben orientieren“?

Von Dr. Ulrich Müller

Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, liebe Eltern, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Gäste,

zu allererst möchte ich Ihnen, liebe Absolventinnen und Absolventen, ganz herzlich dazu gratulieren, wie herrlich weit Sie’s heute schon gebracht haben. Genießen Sie erst einmal ihre neu gewonnenen Freiheiten. Endlich ist Ihr Leben nicht mehr durch pädagogische Aufseher, Richter und Platzanweiser bestimmt.

Lebenswege gibt es viele. Aber welcher ist der richtige?

Sie stehen jetzt vor ganz neuen Abenteuern, allerdings auch Herausforderungen: Soll ich den Mietvertrag für ein „letztes Loch“ unterschreiben, weil ich in einer fremden Stadt dringend eine Unterkunft brauche? Wie verhalte ich mich in einer Au-Pair-Familie, die mich schamlos ausnutzt, sozusagen als Fußabtreter missbraucht? Soll ich mich von meinem Freund trennen, weil wir uns nur noch selten sehen können und auch in einem ganz anderen Bereich arbeiten? Wie muss ich meine Seminararbeit aufbauen, damit sie gut beurteilt wird? Meine Lehrer haben mir das bei Hausarbeiten immer genau gesagt, aber mein Dozent meint, wenn ich das nicht kann, sollte ich besser gleich etwas anderes studieren.

Von solchen Problemen haben mir die Abiturientinnen und Abiturienten des letzten Jahres erzählt. Daran anknüpfend möchte ich Ihnen, liebe Heutigen, nun meine Abschieds-Worte vortragen zur Frage „Was heißt, sich im Leben orientieren?“. In Schulfächern sind Sie, glaube ich, 12 Jahre lang fachlich vielfältig orientiert, instruiert, dirigiert, trainiert, gequält worden. Aber gilt das auch für das Fach Leben? Lässt das Leben als Ganzes sich überhaupt erlernen? Ist es doch, wie ein anonym gebliebener Dichter in der taz einmal formuliert hat, „das einzige Produkt ohne Gebrauchsanweisungen“[1].

Andererseits: Wenn Ihnen 12 Jahre Schule überhaupt keine Lebensorientierung vermittelt hätten, dann müssten Sie einen ziemlich abgegriffenen Spruch heute umkehren und sagen: „Nicht für das Leben, sondern für die Schule haben wir gelernt!“ Hoffentlich, liebe Schulabgängerinnen ist das nicht Ihr einziges Fazit! Neu wäre es aber nicht. Denn genau dieses Fazit hat schon der römische Philosoph Seneca über die Bildungseinrichtungen im Rom Kaiser Neros gezogen. Seneca begründete seine Kritik damals so:

„An überflüssigen Problemen stumpft sich die Schärfe und Feinheit des Denkens ab; derlei Erörterungen helfen uns ja nicht, richtig zu leben, sondern allenfalls, gelehrt zu reden. Lebensweisheit liegt offener zu Tage als Schulweisheit; ja sagen wir’s doch gerade heraus: Es wäre besser, wir könnten unserer gelehrten Schulbildung einen gesunden Menschenverstand abgewinnen. Aber wir verschwenden ja unsere […] Güter an überflüssigen Luxus […], an überflüssige Fragen“.

Auch Sie, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, haben sich 2000 Jahre nach Seneca noch oft darüber beklagt, wie viel Überflüssiges Sie lernen mussten: Warum soll eine künftige Immobilienmaklerin Goethe-Gedichte analysieren können, was nützen dem angehenden Maschinenbaustudenten musikalische Notenkenntnisse und wozu soll sich jemand, der Grundschullehrerin werden will, mit trigonometrischen Gleichungen herumschlagen?

Nun, das Gegenargument, die allgemeine Studierfähigkeit müsse ja auf den Nachweis breiter Allgemeinbildung gegründet werden, ist Ihnen bekannt. Gut, aber warum fehlen dann so wichtige Fächer wie Rechtskunde, Technologie, Wirtschaft und Gesundheitslehre? Und müsste Informatik nicht ein Hauptfach sein? Das zweite Semester beklagt sich bei mir gerade über mangelndes Staatswissen unserer Schüler. Brauchen wir also mehr Demokratietheorie? Oder mehr Musik? Die Musen können das Leben doch enorm verschönern, sogar verzaubern. Naturgemäß! Aber sie können es nicht wirklich führen. Bestenfalls können sie uns verführen. Aber wie geht’s danach weiter?

Celina Schmidt de Ccahuana, eine HCO-Abiturientin des vergangenen Jahres, schrieb mir dazu in einer Mail Folgendes: „Du hast doch als Lehrer Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung deiner Schüler. Gib ihnen mehr Raum, sich selbst zu finden, um ihre Überzeugungen und Wünsche auszubilden. Es müsste ein Fach „Selbstbildung“ geben, ein Fach, in dem es möglich ist, sich eine eigene Meinung zu bilden. Ein Fach zur Diskussion, wobei das angelernte Wissen aus allen anderen Unterrichtsfächern angewendet und kritisch hinterfragt wird. Ein Fach, in dem die Begründung einer jeden Meinung bewertet wird und nicht die Aussage.“

Selbst wenn Celina hier den Einfluss von uns Lehrerinnen und Lehrern etwas überschätzt, hat sie nicht Recht mit ihrer Forderung nach mehr Persönlichkeits- und Meinungsbildung? Ist dies nicht ein wichtiges Moment von Erziehung, das die Wissensvermittlung keineswegs überflüssig macht, aber doch insofern über sie hinausgeht, als sie die Verwendung der Fakten einem humanen Ziel unterstellt?

Liebe Absolventinnen und Absolventen, ich möchte die hier angeregte Arbeit an Überzeugungen und Wünschen nun zum Anlass nehmen, an das Bildungskonzept der Aufklärer zu erinnern, um Ihnen daraus, wie ich hoffe, ein paar Orientierungsgrundsätze für das Leben ableiten zu können. Ich weiß, das klingt sehr anmaßend und ist in der Kürze der Zeit ohnehin zum Scheitern verurteilt. Aber lassen Sie es mich wenigstens in Umrissen versuchen.

Die Aufklärung ist ja nicht, wie unsere heutigen Lehrpläne, auf die Erfüllung bestimmter Lernstandards und noch weniger auf bloße Wissensvermehrung gerichtet. Ihr geht es vielmehr um eine ganz grundlegende Lebensorientierung. Genau gesagt zielt sie auf die Formung des Individuums zu einer reifen, selbstbestimmten Persönlichkeit, auf eine „Harmonie von Herz, Geist und Hand“[3], wie Pestalozzi sagt. Dabei steht „Herz“ für Gefühle, Wünsche und Motivationen, „Geist“ für Überlegungen, wache Gedanken und wahre Überzeugungen, „Hand“ schließlich für handwerkliches Können.

Lessing, der große Aufklärer und Konstrukteur der Ringparabel, geht sogar noch einen Schritt weiter, indem er bekennt: „Erziehung gibt dem Menschen nichts, was er nicht auch aus sich selbst haben könnte […], nur geschwinder und leichter“[4]. Demnach müsste also die individuelle Selbstverwirklichung das primäre Ziel einer jeden Schule und einer jeden Erziehung sein.

Bevor ich Ihnen nun, liebe Nicht-mehr-Schülerinnen und Schüler, anknüpfend an diese Stimmen der Aufklärer, meine absoluten, apriorischen, apodiktischen Lebensregeln vorschlage, möchte ich Sie etwas bescheidener noch auf andere Orientierungsangebote unserer Gesellschaft zumindest hinweisen. Was empfehlen denn etwa die Menschen, die uns tagtäglich regieren?

„Wir haben eine europäische Wertegemeinschaft“ sagt unsere Bundeskanzlerin immer wieder gern. Leider nur verrät sie uns dabei nicht, welche Werte es denn sind, die Europas Bürger angeblich teilen. Und es ist ja in der Tat sehr fraglich, ob solche verbindenden Werte überhaupt existieren. Die Spargesetze zur Sanierung der Staatshaushalte können es ja wohl nicht sein.

„Orientierung kommt nicht von selbst“, stellt Bundestagspräsident Norbert Lammert ganz richtig fest. Aber dann fährt er fort: „Aufgeklärte Religionen als herausragende Vermittler ethischer Standards – wer anders als sie könnte für Prinzipien wie Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit, Gewaltlosigkeit oder Gleichberechtigung im eigentlichen Sinne des Wortes „glaubhaft“ einstehen? Wenn diese nicht von Religionen vermittelt werden, ist nach meiner Überzeugung die Wahrscheinlichkeit überschaubar gering, dass sie überhaupt dauerhaft vermittelt werden können.“[6]

Aha: Aufgeklärte Religionen sollen uns also umfassend orientieren. Seinem eigenen Metier, der Politik, traut der Politiker hier offenbar gar nichts mehr zu. Meine Damen und Herren, ich frage Sie nur zweierlei: 1. Was sindaufgeklärte Religionen? Ist der Katholizismus eine aufgeklärte Religion? Ist der Islam eine aufgeklärte Religion? 2. Wer soll eigentlich die vielen Atheisten, Antitheisten, Agnostiker unter uns orientieren? Nun, sicher war es kein Zufall, dass Lammerts Thesen ausgerechnet am 24. Dezember herauskamen.

Fehlen darf hier natürlich auch nicht diejenige Orientierung, die Eltern und Lehrer meistens geben. Und ich weiß, dass auch wir an der HCO vielfach so beraten haben. Einer meiner eigenen Lehrer hat es damals so formuliert, es hat sich mir fast wörtlich ins Gedächtnis eingraviert: „Egal, was passiert, und wenn Sie dafür in den hintersten Winkel der Welt ziehen müssen, das Wichtigste und Vordringlichste ist, sie haben eine sichere Stelle und Ihr gutes Auskommen. Alles andere wird sich dann fügen.“

Klingt doch ganz vernünftig, oder? „Ich studiere Elektrotechnik nicht deshalb, weil es mich besonders interessiert, sondern weil die Einstiegsgehälter dort am höchsten sind.“ Sollen wir daraus den Schluss ziehen, was die Welt im Innersten zusammenhält, sei nun mal das Geld, nach dem wir, wenn auch verstellt, uns alle zu richten haben?

Ich möchte, liebe Eltern und Kollegen, diese Meinung überhaupt nicht kritisieren. Ich möchte lediglich bezweifeln, dass sie zu einer allgemeinen Lebensorientierung taugt. Und um meine Zweifel zu belegen, würde ich Sie gern auf die neue Zufriedenheitsstudie von UNICEF aufmerksam machen, die u.a. zu folgendem Ergebnis kommt: Die deutschen Jugendlichen leben meist in ökonomisch gesicherten Verhältnissen. Sie verhalten sich vorbildlich, geradezu mustergültig. Seit drei Jahren rauchen sie weniger, schneiden beim Pisa-Schulleistungstest besser ab, trinken weniger Alkohol. Auch die Zahl der Rangeleien, Pöbeleien und Prügeleien auf deutschen Schulhöfen ist deutlich zurückgegangen. So weit, so gut. Doch nun kommt das Schockierende: Die subjektiv empfundene Lebensqualität der jungen Leute ist sehr gering, das Zufriedenheitsgefühl geradezu im Keller. Auf der europäischen Glücks-Skala liegen die krisengeschüttelten Länder Spanien und Griechenland, in denen die Jugendarbeitslosigkeit weit über 50 % liegt, auf den vorderen Plätzen – nur die Niederlande und Skandinavien schneiden besser ab – Deutschland hingegen rangiert auf Platz 26. Ich glaube, wir sind uns einig, diese Befunde nicht einfach der lieben Sonne zuschreiben zu dürfen. „Einseitige Konzentration auf Leistung und formalen [sprich wirtschaftlichen, U.M.] Erfolg“ machen Experten als Gründe für das Unglück deutscher Jugendlicher aus.

Ich weiß nicht, liebe Jugendliche, inwieweit Sie diese Ergebnisse bestätigen können. Ich weiß aber genau, dass sich viele von Ihnen zu noch ganz anderen Orientierungsmaßstäben als Leistung und Erfolg bekennen, z.B. Julius Stanke. Julius, bereits in der 10. Klasse haben Sie in einem Blog Folgendes gepostet:

„Was zur Hölle ist ein „gutes Leben“? […] Geht es nach unseren Lehrern, scheint ein gutes Leben zu bedeuten, frustrationstolerant genug zu sein, nicht jeden, der einem tierisch auf die Nerven geht, mit Forken und Mistgabeln durch die Stadt zu jagen. Aber was ist ein gutes Leben für uns, die Jugend dieses Landes? Ich für mein Teil versuche gütig […] mit den Kindern, […] gnädig mit den Schuldigen, […] geduldig mit den Alten und […] mitfühlend mit den Kranken [zu sein], denn eines Tages werde ich das alles auch gewesen sein“.

Ich kann dazu nur sagen: Es freut mich sehr, dass es solche Überzeugungen in diesem Abiturjahrgang noch gibt. Ist Solidarität mit Hilfsbedürftigen doch ein sehr knappes Gut, neben der Natur zur wohl gefährdetsten Ressource unserer Gesellschaft geworden. Aber ohne diese Solidarität bleibt unser Zusammenleben einfach nur kalt und rücksichtslos.

Unsere Abiturientin Charlotte Boergen wiederum setzt auf folgenden Lebenskompass. Charlotte, ich zitiere Sie sinngemäß, in etwas verändertem Wortlaut von der HCO-Homepage: ‚Das Schwerste und zugleich Wichtigste, was wir lernen sollten, ist, tief in uns selber hineinzublicken. Und sich selber erfassen, das können die wenigsten. Den meisten fällt es ja schon schwer, sich selber von außen zu betrachten‘.

Auch dieser Überzeugung stimme ich sehr gerne zu: Selbsterkenntnis ist eine notwendige Voraussetzung für Selbstfindung und damit auch für Lebensorientierung. Und die Aufforderung „Erkenne dich selbst“ hat ja nicht zufällig schon über dem Apollon-Tempel des Orakels von Delphi gestanden. War sie doch das Ergebnis einer frühen Selbstbesinnung der Menschen, die sich dann nach und nach zu einer umfassenden philosophischen Argumentationskultur weiterentwickelt hat.

Was folgt nun aus all‘ dem für unsere Lebensorientierung? Zunächst, meine ich, ganz klar dies: Nicht Frau Merkel, nicht der Papst und, sorry, auch nicht Ihre Lieblingslehrerin oder Ihr Lieblingslehrer kann Ihnen die Entscheidung, wie Sie leben wollen, abnehmen. Und daher nenne ich Ihnen als ersten Orientierungssatz eine Vernunft-Regel, die Sie alle zumindest aus dem Deutschunterricht schon kennen:

1.   Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen. (Satz der Selbstständigkeit)

Das ist nun, wie ich zugebe, nicht besonders originell. Aber Lebensorientierungen sollen auch nicht originell, groß oder spektakulär klingen, sie müssen nur wahr sein. Und wahr ist dieser Grundsatz deshalb, weil nur Sie und niemand anderes darüber urteilen kann, was Ihnen persönlich im Leben alles wichtig ist; und weil niemand anderes, nur Sie persönlich, entscheiden können, in welchem Verhältnis diese verschiedenen Wichtigkeitenzueinander stehen sollen, also z.B. Sicherheit vor Selbstverwirklichung, aber nach Familienleben; oder Freizeit nach Fortbildung, aber beides vor hohem Einkommen; oder auch Abenteuerlust über allem und danach Gesundheit und Natur auf gleicher Stufe oder wie auch immer.

Nur, damit keine Missverständnisse aufkommen: Die Ihnen zugemutete Selbstständigkeit schließt natürlich ein, dass Sie sich aus freien Stücken in die Abhängigkeit anderer Personen oder Institutionen begeben können, um sich von ihnen beraten, bzw. helfen zu lassen. In solchen Fällen handeln wir zwar fremdbestimmt, aber immer noch aus Selbstbestimmung heraus. Wichtig für alle selbstständig eingegangenen Formen von Unselbstständigkeit ist nur, dass wir uns darin selber treu bleiben. Das heißt, wir dürfen die Unterordnung der Fremdbestimmung unter die Selbstbestimmung niemals umkehren. Daher nun meine vernunftkritische Ergänzung des 1. Vernunftsatzes als Satz

1.a) Lass dich immer belehren, aber nie bekehren. (Satz der Selbsttreue)

Weiterhin möchte ich nun behaupten, dass wir die Vernünftigkeit unserer Lebenspläne vergrößern können, indem wir die abweichenden Überzeugungen und Absichten anders denkender Personen nicht einfach abwehren oder auf Distanz halten, sondern vielmehr in unsere eigenen Überlegungen mit einbeziehen. Selbst wenn wir aufrichtig geäußerten anderen Gedanken nicht zustimmen, können wir von ihnen doch letztlich nur profitieren, weil sie unsere Rationalität im Ganzen gesehen erweitern. Daher möchte ich Ihnen folgende Grundeinstellung als zweite vernünftige Ergänzung des 1. Vernunft-Satzes ans Herz legen:

1.b) Der Andersdenkende könnte Recht haben. (Satz der Toleranz)

So viel zu den Grundsätzen des lebensorientierenden Denkens.

Wie aber sollen wir nun handeln? Für den Aufklärer Immanuel Kant ist die Antwort ganz klar: natürlich nach dem moralischen Gesetz, dem kategorischen Imperativ, der nur solche Lebensregeln durchgehen lässt, die sich widerspruchsfrei verallgemeinern, d.h. für alle Menschen als gültig erweisen lassen. Tja, und wenn Kant das so sieht, werden Sie sagen, warum sollten wir das dann anders sehen? Ich könnte meinen Vortrag hier also zufrieden beenden.

Ich habe Ihnen aber tatsächlich eine wichtige Erweiterung Kants anzubieten, die unser Zusammenleben betrifft. Denn die größten Probleme des Lebens resultieren ja nun einmal daraus, dass wir so viele sind und uns trotzdem irgendwie vertragen müssen. Eben diese Dimension des verträglichen Miteinanders hat Kant zwar angedacht, aber nicht ganz konsequent zu Ende gedacht. Kant hat sich zu sehr nur auf die Verallgemeinerungsregel und die gute Gesinnung des Einzelnen verlassen und zu wenig an die vorhersehbaren Folgen unseres Handelns für das Zusammenleben gedacht. In der sogenannten Menschheitszweckformel des kategorischen Imperativs sagt er, du sollst die Menschheit in deiner wie jeder anderen Person niemals nur als Mittel, sondern immer auch als Selbstzweck behandeln. Und ich möchte Sie, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, nun davon überzeugen, dass eben diese von Kant geforderte wechselseitige Anerkennung unserer Selbstzweckhaftigkeit, die Achtung des freien Denkens und Wollens eines jeden Einzelnen, also das, was Charlotte Boergen als mögliche Selbsterkenntnis bezeichnet, die Verantwortung für ein freiheitliches Zusammenleben zur Folge haben muss. Das heißt, jeder sollte im Handeln darauf achten, unsere erreichten persönlichen und sozialen Freiheiten, wenn möglich oder nötig, zu fördern – das wäre das moralische Maximum – , aber niemals zu gefährden, und das ist, meine ich, das von jedem zu fordernde moralische Minimum.

Das reicht aber natürlich noch nicht aus. Denn damit aus der Freiheit, die wir uns wechselseitig zugestehen, kein Durcheinander und auch kein Gegeneinander sich durchkreuzender und bekämpfender Lebenspläne wird oder werden kann, muss die Orientierung an der Freiheit mit der Orientierung am Frieden verknüpft werden. Das eine ist vernünftigerweise nicht ohne das andere zu haben. Denn Freiheit ohne Frieden wäre furchtbar, aber Frieden ohne Freiheit wäre eine ebenso menschenunwürdige Unterdrückung. Frieden und Freiheit sind wie siamesische Zwillinge: Das eine Prinzip kann ohne das andere nicht überleben. Und genau hier hat die Solidarität, von der Julius Stanke spricht, ihren Platz. Denn sie hilft denjenigen Menschen, die zur Selbsthilfe nicht imstande sind, ihre Freiheit gleichwohl auszuüben. Insofern ist sie die beste Voraussetzung für einen Frieden in Freiheit. Aus der Orientierung an Frieden und Freiheit folgt meines Erachtens ein praktischer Satz, den ich als sozialen Imperativ bezeichne:

2. Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit einem dauerhaft freien und friedlichen Zusammenleben von Menschen auf der Erde. Oder, negativ ausgedrückt: Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung ein dauerhaft freies und friedliches Zusammenleben von Menschen auf der Erde nicht gefährden. Vereinfacht gesagt: Handle so, dass deine Absicht immer auch ein wirklich humanes Zusammenleben einschließt. Negativ gefasst: Gefährde nicht die Bedingungen für ein wirklich humanes Zusammenleben.[11]

Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, als ich einige von Ihnen gefragt habe, worüber ich heute sprechen sollte, wurden immer wieder zwei HCO-Regeln genannt, die ich bislang eher für nebensächlich gehalten hatte. Da sie Ihnen aber offensichtlich unter den Nägeln brennen, möchte ich sie abschließend mit Hilfe des gerade aufgestellten sozialen Imperativs überprüfen.

Da ist zunächst die sogenannte Einbahnstraßen-Regel, die besagt, dass im Gang zwischen Foyer und Cafeteria während der Pausen nur in eine Richtung zu gehen ist. Diese Vorschrift wurde von Ihnen oft als unberechtigter Eingriff in Ihre Bewegungsfreiheit kritisiert. Tatsächlich nimmt sie ein kleines Stück Freiheit weg. Aber sie schafft eben auch die Freiheit, in den Pausen unbehindert in die Cafeteria hinein und wieder hinausgehen zu können, was vorher bei tausend Schülern so nicht möglich war. Es gab Staus und Gedränge. Was hier aber noch viel schwerer wiegt, ist ja der andere notwendige Aspekt, die Sicherung des sozialen Friedens. Seit In-Kraft-Treten der Regelung gab es weder Drängeleien, noch Rangeleien  oder Streitereien wegen Überfüllung. Vorher dagegen war die Aufsicht in diesem Bereich immer sehr anstrengend und problematisch. Ich denke, die Begrenzung der Bewegungsrichtung als zumutbares Freiheitsopfer zugunsten des größeren Freiheitsgewinns einer Cafeteria-Beweglichkeit für alle zusammen mit der Sicherung des Flurfriedens spricht eindeutig für die soziale Vernünftigkeit dieser Vorschrift.

Die zweite, von Ihnen oft in Frage gestellte Regel betrifft das Mitführen- und Vorzeigen-Müssen der Oberstufenausweise. Indem die Oberstufler während der Pausen im Gebäude bleiben dürfen, gewinnen sie ein Stück Freiheit. Und die Ausweise dienen ja nur dazu, dieses Freiheitsrecht dauerhaft zu sichern und vor Missbrauch zu schützen. Wer das als zu große Einschränkung empfindet, sollte für sich persönlich abwägen, ob die gewonnene Freiheit diese Auflage nicht wert ist. Wie auch immer, das Freiheitsprinzip wird durch die Ausweis-Regel in keinem Fall verletzt. Das Friedensprinzip wiederum ist hier zunächst gar nicht berührt. Es könnte allerdings dann in Gefahr geraten, wenn die Abschaffung der Ausweis-Regel zum massenhaften Missbrauch der Freiheit führen würde.

Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, unsere Frage „Was heißt, sich im Leben orientieren?“ möchte ich zusammenfassend so beantworten: Menschliches Zusammenleben ist dann gut, wenn es am siamesischen Zwilling von Frieden und Freiheit ausgerichtet ist. Die beste Voraussetzung für Freiheit wiederum ist die wechselseitige Anerkennung unserer persönlichen Selbstbestimmung. Und der beste Boden für Frieden ist Solidarität. Etwas einfacher können wir sie auch Nächstenliebe nennen, die gerade keine Glaubenssache nur für Religiöse, sondern eine Wissenssache aller vernünftigen Wesen ist. Nächstenliebe ist eben etwas, das den Menschen aller Kulturen und aller Religionen zugänglich und zumutbar sein muss. Und das gibt Hoffnung.

Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, ich wünsche Ihnen von ganzem Herzen ein freies, soll heißen, weitgehend selbstbestimmtes, und zugleich friedliches, soll heißen, möglichst unbeschädigtes Leben. Beides zusammen ist schon sehr viel. Ich danke Ihnen!

 

 

 

 

 


Taz, 26.06.1981.

Seneca, Epistulae morales ad Lucilium 106, 12, zitiert nach: Klaus Bartels, Veni, vidi, vici, Mainz 2006, S. 110.

Pestalozzi, Geist und Herz in der Methode (1805): Die Elementarbildung setzt sich „nicht weniger vor, als durch die Gesamtheit und Übereinstimmung all ihrer Mittel Herz, Geist und Hand zum Höchsten und Edelsten, dessen unsere Natur fähig ist, zu erheben“, PSW 18, S. 50, zitiert nach: http://www.heinrich-pestalozzi.de (06.06., 19:55 Uhr).

G.E. Lessing, Erziehung des Menschengeschlechts, München 1997, § 4.

Rede von Bundeskanzlerin Angela Merkel zur Berliner Erklärung, Quelle: (09.05.2013, 11:48 Uhr), S. 4: „Ich glaube, die Menschen in Europa werden uns alle, die wir Europa vertreten, natürlich ganz wesentlich daran messen, ob wir das, was Europa stark gemacht hat – eine Wertegemeinschaft, eine Gemeinschaft der Menschen, die in ihrer individuellen Würde leben können, die den Menschen Wohlstand und sozialen Zusammenhalt gebracht hat -, auch für die nächsten Jahrzehnte weiter sichern können.“

Der Tagesspiegel, 24.12.2011.

http://www.welt.de/vermischtes/article115182528/Unsere-Kinder-sind-gesund-und-reich-aber-traurig.html (09.05.2013, 18:00 Uhr)

Quelle:

Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, A 66 f.

Ulrich Müller, Frieden und Freiheit. Eine Kritik der sozialen Vernunft, Würzburg 2013, S. 56.

 

Der Mensch zwischen Freiheitsstreben und Unterordnung als literarisches Thema

Wenn die Freiheit eine Lüge ist, ist dann die Unterordnung eine Wahrheit? Oder lügt die Freiheit selber? Doch worin sollte ihre Lüge bestehen? Können Begriffe überhaupt lügen oder die Wahrheit sagen? Und was besagt die Beantwortung dieser Frage für das Verhältnis von menschlichem Freiheitsstreben und menschlicher Unterordnung?

 

Lina Jeromin

Soziale Wesen können nicht frei sein

Was ist Freiheit? Kann ein Mensch überhaupt frei sein? Wie sieht diese Freiheit aus, falls es sie gibt? Diese und noch viele andere Fragen wurden im Laufe der Geschichte von verschiedenen Menschen aus unterschiedlichen Zeiten, Kulturen und Perspektiven gestellt. Eine universelle Antwort auf diese Fragen gibt es nicht. Denn wie soll das möglich sein?! Ein 12-jähriger Junge aus dem 21. Jahrhundert würde Freiheit ganz anders definieren als ein Sklave vor 2000 Jahren.

Definitionen gibt es viele, z.B. folgende, die auf Immanuel Kant zurückzuführen ist. Dieser geht davon aus, dass es zwei Arten von Freiheit gibt:  Die negative Freiheit „von etwas“ ist ein Zustand, welcher frei von Zwängen ist, die ein Verhalten erschweren oder verhindern können. Die positive Freiheit „zu etwas“ hingegen ist der Zustand, in welchem bestehende Möglichkeiten  auch genutzt werden können.

Auch aufgrund dieser Definitionen bin ich zu der These gekommen, dass ein Mensch, der sich als Teil einer Gesellschaft sieht, nicht frei sein kann. Denn eine Gesellschaft besitzt ein Ideal, das Ideal eines Menschen, wie dieser zu sein hat, wie er auszusehen hat und vieles mehr. Und durch das Streben nach diesem Ideal verlieren wir unsere negative Freiheit, da das Ideal, welches von vielen Menschen geschaffen worden ist, uns Richtlinien vorsetzt. Ein eindrucksvolles Beispiel bietet Oscar Wildes Dorian Gray, welcher seine Seele hergab, um die Schönheit seiner Jugend dauerhaft zu behalten, mit welcher er sowohl für An- als auch Aufsehen in der Gesellschaft sorgte.

Neben diesen Idealen bilden sich auch Traditionen, Regeln und Normen heraus, welche dem Menschen sein unbeeinflusstes Verhalten vorenthalten. Javier Marias zeigt das in „Mein Herz so weiß“ (1992). Der Protagonist Juan lässt sich aufgrund von Traditionen und Normen zu einem Lebenswandel bewegen, den er sonst vielleicht niemals eingeschlagen hätte, da er  mit dem „status quo ante“, also der Situation vor dem Wandel, zufrieden war. Aber aufgrund des gesellschaftlichen Drucks, „weil man das so macht“, verlieren wir unsere Freiheit, ohne es zu merken. Für viele Menschen wird durch dieses Gesellschaftssystem ein Leben „vorprogrammiert“: Sie werden geboren, gehen in den Kindergarten, in die Schule, probieren sich in der Arbeitswelt aus und hoffen auf Familie und Kinder, am Ende ihres Lebens sitzen sie dann zu Hause oder im Liegestuhl am Strand eines südeuropäischen Rentnerparadieses und schauen auf ihr Leben zurück und merken, dass sie ihr Leben genauso gelebt haben, wie es die Gesellschaft von ihnen erwartet bzw. wie diese sie dazu beeinflusst hat, somit ist es mehr als fraglich, ob sie während dieses Lebens auch nur eine Sekunde lang, nach der Definition Kants,  frei waren.

Aber was passiert, wenn Menschen sich nicht an soziale und staatliche Regeln halten? Eine Antwort darauf findet George Orwell in seinem Roman „1984“. Er erzählt die Geschichte von Winston Smith, der in dem Land Ozeanien aufwächst, in welchem eine Partei durch Kontrollen die von ihnen aufgestellten Regeln durchsetzt und ein Entkommen aus diesem System unmöglich erscheinen lässt. Der Protagonist versucht zusammen mit seiner Geliebten, Julia, diesem System zu entfliehen und wird am Ende durch Folterungen zu einem staatstreuen Diener „bekehrt“.  In der heutigen Realität des 21. Jahrhunderts wird der Mensch nicht unbedingt durch Folterung usw. zur Teilnahme an der Gesellschaft gezwungen, allerdings kann er aufgrund von fehlender Akzeptanz oder durch Aufmerksamkeitsentzug seiner Mitmenschen zur Anpassung genötigt werden, da nur die wenigsten Personen mit einer fast vollständigen Isolation von anderen Menschen lebensfähig wären.

Aber nicht nur die Gesellschaft, als ein großes Gesamtwesen, auch Individuen können sich ihrer Freiheit berauben, sodass sie nicht mehr das Leben führen können, was sie angestrebt haben. Heinrich Böll schildert in „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ die Geschichte einer jungen Frau, welche einem von der Polizei gesuchten Verbrecher aufgrund ihrer Liebe zu diesem zur Flucht verhilft. Die Protagonistin Katharina Blum wird daraufhin von den Medien verfolgt und in Berichten z.B. als „Mörderbraut“ denunziert, woraufhin sie den verantwortlichen Journalisten erschießt. Diese Geschehnisse zeigen, wie ein Mensch mit egoistischen Handlungen die Freiheit vieler Menschen in einer Gesellschaft zerstören kann, in dieser Geschichte die von Katharina Blum und ihren Angehörigen. Darüber hinaus wird auch gezeigt, wie leicht eine Gesellschaft zu beeinflussen ist, auch ihr Bewusstsein für das Richtige und Falsche, und wie durch verschiedene Arten der Steuerung, in diesem Fall durch die Medien, Menschen ihrer Freiheit beraubt werden.

Ein weiteres Problem betrifft die Frage, wer eigentlich diese Regeln, Normen und Ideale entwirft. Sie entstehen meistens über Generationen hinweg, ausgehend von den Bedürfnissen und Vorlieben der Mehrheit der Bevölkerung. Aber was passiert mit den Minderheiten, die andere Einstellungen vertreten? Sie werden in Gesellschaften ihrer Freiheit beraubt, da sie, wie oben im Text bereits erwähnt, sich anpassen müssen, um nicht ihre Akzeptanz zu verlieren. Paulo Coelhos Werk „Veronika beschließt zu sterben“ erzählt die Geschichte von Veronika, welche nach einem missglückten Selbstmordversuch in der psychiatrischen  Klinik landet und dort ein Gespräch mit einer anderen Insassin über das Thema „verrückt sein“ führt. Besonders bei der Erzählung von einem Königreich, welches mit Ausnahme des Königspaares verrückt geworden ist, kommt heraus, dass nicht immer die Mehrheit das Richtige tut, sondern dass auch Minderheiten Recht haben können. Am Ende bleibt dem Königspaar nichts anderes mehr übrig, als ebenfalls verrückt zu werden, um in der Gesellschaft der „Verrückten“ anerkannt zu werden. Deutlich zeigt diese Geschichte die Unterdrückung des Individuums durch die Gesellschaft.

Es ist natürlich auch möglich gegen diese These zu argumentieren, indem man sagt, dass Normen, Regeln usw. nur zum Schutz der Menschen dienen, damit diese ihre Freiheit ausleben können, da die Regeln über Jahre getestet und verbessert worden sind, um dem Menschen ein angenehmes und freies Leben zu ermöglichen. Ein Beispiel dafür sind Gesetze und Menschenrechte. Diese prägen Menschen auch dann, wenn sie auf deren Wohl ausgerichtet sind. Ist das dann schon Unfreiheit?

Insgesamt zeigen alle literarischen Beispiele, dass eine Gesellschaft aufgrund ihrer Normen, Regeln und Ideale das Verhalten der Menschen beeinflusst. Nach den obengenannten Definitionen wären Menschen in Gesellschaft somit nicht frei. Da es jedoch, wie ich anfangs betont habe, keine universelle Definition von Freiheit gibt, muss jeder Mensch selbst entscheiden, ob er in sich in einer Gesellschaft frei fühlen kann oder nicht.

 

Zum Beispiel die Ostkurve, eine Gesellschaft im Kleinen: Kann sich der Hertha-Fan in ihr frei entfalten oder ordnet er sich einer gigantischen Geschäftsmaschinerie unter? Vielleicht beides? Aber was überwiegt dann? Und wovon hängt solches Überwiegen ab?

 

Xenia Passilakis

Freiheitsstreben und Unterordnung liegen nahe beieinander

 

Der Mensch steht ein Leben lang zwischen dem Streben nach Freiheit und der Unterordnung. Zu sagen, man wäre frei, hängt immer von der Ausgangsstellung und von der Perspektive eines jeden Menschen ab. Der Mensch ist in vielen Stellungen und Situationen nicht frei, und doch fühlt er sich nicht eingesperrt oder ähnliches. Er hat nur das Gefühl, nicht genug Rechte zu haben.

Unter dem Begriff „Freiheit“ versteht man, dass man die Möglichkeit hat, ohne Zwang eine Entscheidung zu treffen.

Es lassen sich zwei Bedeutungen von Freiheit unterscheiden:

1. Die „Freiheit von etwas“, d.h. die traditionelle, im europäischen Denken zentrale Forderung nach Unabhängigkeit und Abwesenheit von Zwang und Unterdrückung.

2. Die „Freiheit für etwas“, d.h. die inhaltliche Bestimmung, die tatsächliche Umsetzung und letztlich die Übernahme der Verantwortung für das, was ohne Zwang und Unterdrückung getan (oder unterlassen) wird.

Freiheit und Unterordnung. Die beiden Begriffe kann man nicht einfach so stehen lassen. Der Begriff ,,Freiheit“ muss unterteilt werden, genauso auch der Begriff ,,Unterordnung“. Man kann, auch wenn man in einem Teilbereich seines Lebens nicht die Freiheit hat zu entscheiden, nicht sagen, man sei unfrei.

Besonders als Kind sagt man immer, man hat noch nicht so viele Freiheiten, und wünscht sich endlich erwachsen zu werden. Doch Freiheit heißt auch Verantwortung für etwas übernehmen. Als Kind muss man sich den Eltern „unterordnen“. Sie haben das Sagen und auch nur sie können über dich bestimmen. Sie allein sagen dir, wann du ins Bett gehen musst und auch nur sie dürfen bestimmen, welchen Film du schauen darfst und welchen Film eben noch nicht. Doch welche Freiheiten haben die Kinder?

Darf man etwas nicht oder verbieten die Eltern etwas, ist man mürrisch und sauer. Man denkt sich: „Die wollen mich doch nur ärgern“ oder „Die haben Gefallen daran, mir nichts zu erlauben“. Kein Kind denkt, dass sich die Eltern nur um sein Wohl sorgen. Es hinterfragt noch nichts. Ihm wird etwas gesagt und es muss gehorchen.

Auch nach dem Gesetzbuch haben die Eltern das Recht, über ihre Kinder zu bestimmen, aber auch Pflichten ihnen gegenüber. Doch nur deshalb, weil Kinder nicht beliebig lange draußen bleiben, keinen Alkohol trinken und nicht alle Filme gucken dürfen, wird noch niemand sagen, sie wären unfrei. Wir sehen solche Regeln eher als Schutzmaßnahmen, die zum Wohl des Kindes befolgt werden müssen.

Auch in der Literatur spielt der Begriff „Freiheit“ eine tragende Rolle. Ein sehr heikles Thema in diesem Zusammenhang ist die Religion. Nehmen wir das „Tagebuch der Anne Frank“, in dem das Mädchen Tag für Tag ihr Leben in der Zeit der Judenverfolgung beschreibt. Sie verstarb Anfang März 1945 im KZ Bergen-Belsen. Da es Anne Franks Wunsch war, andere Menschen an ihren Gefühlen, Ärger, Angst, Abneigung und Zuneigung teilhaben zu lassen, veröffentlichte ihr Vater, der einzige Überlebende in der Familie, die von ihm gekürzte Fassung des Manuskriptes. Freiheit: Sollte nicht jeder seine Religion frei wählen können? Sollte nicht jeder das Recht haben, den „Herrn“ zu wählen, der ihm in Not und schlechten Zeiten beistehen soll? Das Buch zeigte mir, dass, wenn man Menschen allein das Recht der Religionsfreiheit verwehrt, sie als Individuen nichts mehr zum Festhalten in der Not haben. Auch heute noch gibt es Auseinandersetzungen um die Religion. Viele Menschen haben immer noch Vorurteile gegenüber Andersgläubigen.

Geld. Ja, mit Geld kann man viele seiner Probleme lösen. Ja, man kann sich sogar seine Freiheit erkaufen. Doch was macht man, wenn man kein Geld hat? Ist man dann weniger frei? Das epische Theaterstück ,,Der gute Mensch von Sezuan“ von Bertolt Brecht beschreibt das Verhältnis zwischen der Moral und dem Geld in der kapitalistischen Gesellschaft sehr gut. In dem Buch geht es um drei Götter, die auf die Erde kommen, um in einer von Egoismus geprägten Gesellschaft gute Menschen zu finden, was sich als unmöglich erweist. Sie suchen nach einer Unterkunft und finden diese dann nach mehreren Absagen bei der Prostituierten Shen Te. Sie nimmt persönliche Nachteile in Kauf, um anderen zu helfen. Am nächsten Morgen erzählt sie den Göttern von ihren Geldproblemen und als Dank entschädigen sie Shen Te für das Nachtlager mit einem kleinen Vermögen. Als Gegenleistung dafür verspricht Shen Te den Göttern, sich in Zukunft nur noch redlich und gut zu verhalten, was sich allerdings in der kapitalistischen Gesellschaft zunehmend als schwierig herausstellt, da ihr selbstloses Engagement für die Armen und Vernachlässigten sehr schnell sämtliche finanzielle Reserven aufbraucht und sie schließlich fast „in die Ruinen“ stürzt. All das führt dazu, dass sich Shen Te in den Verkaufsmann Shui Ta verkleiden muss, um ihre Existenz einigermaßen aufrechterhalten zu können, denn sie war es ja, die den Göttern versprochen hat, immer gut zu den Menschen zu sein, doch als Shui Ta muss sie auf andere nicht so sehr Rücksicht nehmen. Nur Shen Te behält in diesem Stück moralische Würde, allerdings ist der Preis, den sie dafür zahlen muss erheblich: wirtschaftliche und soziale Unfreiheit.

Schon früher musste man sich Menschen mit mehr Vermögen unterordnen, wie u.a. in Jane Austens „Stolz und Vorurteil“ sehr gut beschrieben wird. Dort geht es vor allem um die soziale Stellung der Frau. Das Buch handelt von der zu ihrer Zeit äußerst modernen Frau Elizabeth Bennet, die eine völlig andere Vorstellung von der Ehe, dem Leben und  der Liebe hat. Nach ihrer Meinung sollte man nur aus Liebe heiraten, während Ehen üblicherweise arrangiert werden. Nur ein Mann hat in dieser Gesellschaft Ansehen und auch nur ein Mann hat die Freiheit zu erben. Noch viel erdrückender ist für Elizabeth, dass Mr. Darcy, ein vornehmer, aristokratischer und sehr reicher Mann, den sie zutiefst unsympathisch findet und zu allerletzt heiraten würde, trotz ihres niedrigeren Standes anfängt, Gefühle für sie zu hegen. Lady Catherine de Bourg, die Tante von Mr. Darcy, toleriert seine Gefühle überhaupt nicht. Sie möchte, dass er ihre wohlhabende Tochter heiratet, und fühlt sich gedemütigt, dieses Versprechen an eine niedriger Gestellte zu verlieren. Nach mehreren Hürden erkennt Elizabeth dann schließlich, dass Mr. Darcy eigentlich ein sehr liebenswerter und sehr netter Mann ist, der ihr und ihrer Familie schon in vielen Nöten geholfen hat. Nach dem Besuch von Lady Catherine, die Elisabeth auf jede nur mögliche Art und Weise beleidigt hat, gesteht sich Elizabeth ihre Gefühle für Mr. Darcy ein.

Das Buch beschreibt die damaligen Sitten und Bräuche sehr gut und zeigt besonders die negativen Seiten von arrangierten Ehen, insbesondere den Wert und die Stellung der Frauen, die damals noch nicht einmal das Recht hatten, ihren Lebenspartner zu wählen, irgendetwas zu erben oder auf öffentliche Veranstaltungen zu gehen, bevor die älteste Schwester noch nicht verheiratet war. Man könnte daher sehr wohl das frühere Leben von Frauen mit einer Gefangenschaft und starken Unterordnung in der Gesellschaft vergleichen. Sie waren schlicht gesagt ,,unfrei“. Noch heute werden viele Ehen arrangiert, und die Frau ist in vielen Kulturen und Religionen Untertanin des Mannes.

In Jodi Picoults Roman ,,Beim Leben meiner Schwester“ geht es hauptsächlich um das Thema ,,Designerbabys“, für die eine weibliche Eizelle im Reagenzglas befruchtet wird. Die elfjährige Anna Fitzgerald wurde nur gezeugt, um ihrer leukämiekranken Schwester Körperteile zu spenden. Doch eines Tages verlangt Anna Selbstbestimmung über ihren eigenen Körper. Sollte nicht jeder das Recht haben, frei über seinen Körper zu bestimmen? Sollte nicht jeder die Freiheit haben, sein Leben so zu gestalten, wie man es selbst für richtig hält? Das Buch zeigt die dramatische Geschichte einer Familie, die durch die Krankheit der Tochter/Schwester zerrissen und wieder  vereint wird.

Designerbaby – der letzte Schrei? Man kann bestimmen, welche Augenfarbe es haben soll, welche Haarfarbe, und man kann sogar bestimmen, wie groß es einmal werden soll. Doch nimmt man den Kindern somit nicht eigentlich die Freiheit so zu sein, wie man natürlich entstanden wäre? Nimmt man ihnen so nicht eigentlich ihre Identität? Die Menschen, die dieses tun, haben die Freiheit, die Zellen so zu manipulieren, wie sie es wollen. Sie machen aus einem individuellen Ganzen zwei, vier oder acht gleiche. Freiheit der Selbstbestimmung gerät mit der Freiheit der Wissenschaft und Technik aneinander.

Freiheit und Unfreiheit oder Unterordnung liegen nahe beieinander. Oft betrifft dieses Zusammen den Menschen als Individuum. Jeder Mensch würde Freiheit und Unterordnung verschieden definieren und genau diese Vielfalt macht letztlich auch unsere Persönlichkeit und unser Handeln aus.

Ein unversöhnliches Lied des Sängers Udo Jürgens:

Du bist frei, endlich frei,
ungebunden statt geborgen,
und es kostet einen hohen Preis:
Niemand wärmt dich bei Nacht.
Niemand sagt „Hallo“ am Morgen.
Und die Stille ist so kalt wie Eis.

Du bist frei, endlich frei,
aber du bist nicht befreit –
du bist nur verdammt in alle Einsamkeit.

 

Charlotte Wagner

Ist die eigene Freiheit mehr wert als eine Partnerschaft?

 

Im Prinzip besitzt der Mensch die vollkommene Freiheit über seine Handlungen und Entscheidungen, es sei denn, er wird buchstäblich durch Fesseln oder andere Gewalt daran gehindert.

Zur Erhaltung größtmöglicher Freiheit muss man sich aber dem Gesetz unterordnen, sonst ist Gefängnis, also Freiheitsentzug, die Folge.

Außerdem wird die Freiheit im Alltag durch den persönlichen Willen, bestimmte Ziele zu erreichen, eingeschränkt. Möchte man z.B. eine gewisse Freiheit der Berufswahl erlangen, schränkt man die eigene Freiheit und Freizeit auf dem Weg dorthin ein, um dieses Ziel, etwa einen hohen Bildungsabschluss, zu erreichen. Und möchte man viel Geld verdienen, um die Freiheit zu haben, so zu wohnen, wie man möchte, oder sich andere kostspielige Wünsche zu erfüllen, ist die Freiheit der Berufswahl, der Arbeitseinteilung überhaupt, auf andere Art eingeschränkt.

Doch was, wenn jemand sein Leben als sinnlos empfindet und es beenden möchte, so wie Veronika, die in Paulo Coelhos Roman „Veronika beschließt zu sterben“ nach einem misslungenen Selbstmordversuch in die psychiatrische Klinik eingewiesen wird? Sollte dem Menschen die Freiheit gegeben sein, sein Leben aufzugeben?

Eigentlich müsste jeder frei über sein Leben entscheiden dürfen. Jeder hat ein natürliches Streben nach Freiheit und sollte dies, solange andere dabei nicht zu Schaden kommen, auch ausleben können. Es ist jedoch etwas anderes, wenn ein Mensch die Befreiung im Tod sieht und so zwar nicht direkt anderen, aber sich selbst schadet. Dadurch, dass Veronika in die Klinik eingeliefert wird, nimmt man ihr zwar einen Teil ihrer Freiheit, doch man gibt ihr dafür auch den Schutz vor ihr selbst, und vielleicht wird sie auf diese Weise auch befreit von dem Glauben, dass ihr Leben sinnlos sei.

In der Klinik unterhält sich Veronika mit einer anderen Patientin über das Verrücktsein und darüber, dass Verrückte auch ein Recht auf Freiheit haben. Warum auch nicht? Dass sie anders sind oder anders denken, bedeutet ja nicht, dass sie nicht nach Freiheit streben. Und vielleicht sind sie dieser sogar näher als nicht verrückte Menschen?

In einer Geschichte, die die andere Patientin Veronika erzählt, geht es um ein Königspaar, das ein Land regiert, dessen gesamte Bevölkerung durch einen Zaubertrank verrückt wurde. Da der König sein Volk nicht unter Kontrolle bringen kann und zum Rücktritt gedrängt wird, beschließt das Königspaar, auch von dem Trank zu trinken, um genauso zu werden und ihr Volk besser zu verstehen. Al sie dies getan haben, funktioniert tatsächlich alles wieder und der König bleibt in seinem Amt. Doch dafür musste er seinen Verstand aufgeben und somit die Freiheit, sein Leben so weiterzuführen wie bisher, aber im Gegenzug erlangt er die durch das Verrücktsein erkaufte neue Freiheit, vom Volk akzeptiert zu sein.

Unterordnung erfolgt in gewissem Maße auch in der Ehe. Hierbei wird jedoch meistens freiwillig ein Teil der persönlichen Freiheit aufgegeben, um dafür etwas Anderes, noch Erstrebenswerteres, zu erlangen. Dies stellt auch Juan in „Mein Herz so weiß“ von Javier Marias fest, als er kurz vor seiner Hochzeit, darüber nachdenkt, dass er von nun an nicht mehr die kleinen alltäglichen Überraschungen erleben wird, die bisher einen reizvollen Teil seiner Beziehung zu Luisa ausgemacht haben. Er wird sich nun nicht mehr fragen können, wie Luisa wohl aussehen wird, wenn sie sich treffen, da er sie bereits morgens sieht, wenn er aufwacht. Er wird nicht mehr die Freiheit haben, über Dinge zu rätseln, die er von seiner Geliebten nicht weiß, oder sich auszumalen, wie sie vor dem Schlafengehen oder nach dem Aufstehen ist. Ihm wird möglicherweise mehr Wissen über Luisa „aufgezwungen“, als er eigentlich möchte. Doch diese Einschränkungen nimmt er in Kauf, um sie jede Nacht schlafen sehen zu können.

Außerdem macht sich Juan Gedanken darüber, dass sie eventuell Kinder haben werden, auch wenn er sich nicht sicher ist, ob er das will. Doch er weiß, dass er sich nicht widersetzen, sondern unterordnen würde, um seiner Frau die Freiheit zu erhalten, Kinder zu bekommen. In der Ehe muss sich bei vielen Entscheidungen einer der Partner unterordnen, um dem Anderen Freiheiten zu lassen. Doch darauf lässt man sich eben ein, wenn man heiratet, und man sollte auch bereit sein, auf etwas zu verzichten, wenn man den Anderen damit glücklich macht. Man sollte sich also überlegen, ob einem die eigene Freiheit mehr wert ist, als das, was man in einer Partnerschaft dafür erhält.

Im Alltag schafft das Internet heute viele Freiheiten. Doch gleichzeitig wird man dadurch, dass es diese Möglichkeiten gibt, auch genötigt, sie zu nutzen. Man muss sich den neuen Wegen der Kommunikation anpassen, um nicht benachteiligt zu sein. Neue Freiheiten bringen oft neue Zwänge mit sich, die jedoch meistens in Kauf genommen werden.

Wie frei sind wir also wirklich? Manchmal frage ich mich, warum ich etwas tun muss, worauf ich gerade gar keine Lust habe. Meistens ist die Antwort, dass ich es gar nicht wirklich „muss“, es auch sein lassen könnte. Doch dann würde ich vielleicht später etwas anderes nicht tun können oder es entstünden Folgen, die ich vermeiden möchte. Ich schränke mir also meine Freiheiten selbst ein, um selbstgesetzte Ziele erreichen zu können.

So kann jeder Mensch in bestimmtem Maße selbst über seine Freiheit bestimmen, doch wird sie immer auch von vielen anderen Faktoren abhängig sein.

 

 

 

„Die Wahrheit wird euch frei machen“ verkünden vollmundig vergoldete Lettern an der Universität Freiburg. Müsste es nicht richtiger heißen: „Die Freiheit wird euch wahr machen“?

 

 

Celina Schmidt de Ccahuana

Die Grenzen unserer Freiheit im Spiegel der Literatur

 

Eine absolute Freiheit existiert nicht. Freiheit ist empirisch und wir können von Glück sagen, dass die absolute, trotz all unserer Bemühungen, unerreichbar ist. Denn der Zustand von Glückseligkeit erwartet uns nicht am Ende des Weges.

Ein Zauberer schüttete einen Zaubertrank in einen Brunnen, damit dass Volk seines Widersachers, der König, verrückt werde. Dieses fordert, da es die klugen Entscheidungen ihres Herrschers für Unfug hält, dessen Abwahl. Doch der Zauberer kann nicht triumphieren: Die Königsfamilie trinkt selbst das verzauberte Wasser und fügt sich der Verrücktheit, und das Land geht keines Wegs unter, es lebt von da an nur anders.

Es ist eine Geschichte, die Veronika, der Protagonistin von Paulo Coelhos Werk „Veronika beschließt zu sterben“, überzeugen soll, dass „verrückt“ nur bedeutet, in einer anderen Welt zu leben, nur eine andere Möglichkeit ist, sein Leben zu bewältigen und auszukosten. Auch dass eine andere Möglichkeit der Lebensauffassung nicht bedeutet, dass der Weg des Durchschnitts nicht zwingend der einzig funktionierende ist und „verrückt sein“ ein relativer Begriff ist, wird erläutert. Für das verrückte Volk handelt der „normale“ König absurd und nicht nachvollziehbar.

Das Wort „Norm“ findet sich im Fremdwörterduden als „Richtschnur“ beschrieben. Normen sind allgemein anerkannte, verbindlich geltende Regeln für das Zusammenleben der Menschen.

Der Begriff ist die Grundlage für das, in dieser Geschichte relative Adjektiv „normal“. „Normal“ bedeutet „der Norm entsprechend“, „vorschriftsgemäß“, „wie es sich die allgemeine Meinung als das Übliche, das Richtige vorstellt“.

Mit der allgemeinen Meinung ist von der Masse die Rede.

Diese beschreibt schon Elias Canetti als nicht beherrsch- und nicht kalkulierbar. Ihr Streben ist auf einen Zustand größtmöglicher, nicht zu hinterfragender, Gleichheit und Dichte gerichtet. Ihr Zusammenhalt ist durch das gemeinsame, unerreichte Ziel gesichert, ihre größte Angst ist die Furcht vor dem Zerfall durch Orientierungslosigkeit, und diese ist die Schwäche, durch die sie Lenk- und manipulierbar wird.

Das Volk also, unsere Gesellschaft als Masse ist es demnach, das über Norm und Normalität entscheidet und somit alles andere ausgrenzt und unterdrückt. Die erste Grenze der Freiheit ist erkannt, sie liegt in unserem Herdentrieb, in unserem Zusammenleben.

Sichtbar wird dieses Phänomen verstärkt in der Medienkultur.

Zugespitzt, in Amélie Nothomb’s „Reality-Show“: Ein Fernsehsender kidnappt wahllos Menschen und inszeniert mit ihnen ein Konzentrationslager, jeden Tag werden zwei Gefangene per Fernbedienung von den Zuschauern zum Tode verurteilt.

Für uns erscheint es übertrieben, sicherlich jedoch nicht auszuschließen ist das beschriebene  Publikum:

„>>Entsetzlich<<, sagten die Politiker vor den Fernsehgeräten[…] >>Wir hätten das verhindern müssen<< […] die Leute in den Bars, die mit starrem Blick zum Bildschirm an der Theke hingen >>Scheiße ist das. Daß die Politiker solche Sauereien zulassen! […] Haben halt keine Moral […]<< Die Gutmenschen nickten traurig in Richtung Kiste und dachten laut:>>[..] Ein schwarzer Tag für die Menschheit! Doch wir haben nicht das Recht, nicht hinzusehen: Wir müssen >Zeugen des Grauens sein<<[…]Die unschuldigen Verliebten […]>> Wie fern uns diese gemeine Welt ist! Unsere Liebe schützt uns<<[…]. Eltern erklärten ihren Kindern anhand der Sendung das Böse. Wer keinen Fernseher hatte, lud sich bei seinen Nachbarn zu der Sendung ein, um sich heuchlerisch darüber zu empören:>> Da bin ich doch froh, daß ich keinen Fernseher habe<<.“

Auch in der „Truemanshow“, in der ein Fernsehsender ein Baby kauft und aufzieht, ist der Protest schwächer als die breite Zuschauerbegeisterung.

Neben der Unterdrückung der Opfer, sowohl der KZ-Insassen, als auch des Truemans, zeigt sich auch die Unterdrückung derjenigen, die solch etwas nicht unterstützen wollen. Die „Reality-Show“ zeigt  wie Zeitungen, Nachrichten und das Internet die Sendung kritisieren, jemand ruft sogar das Schweigen aus. Denn der Zwang entsteht vor allem durch die fokussierte Beschäftigung mit der Show. Je mehr sie kritisiert wird, desto mehr Menschen wollen sie sehen, um ebenfalls an Diskussionen teilnehmen zu können. Das Schreckliche wird zu Gunsten der Dazugehörigkeit „normal“, die Normen verändern sich, werden beeinflusst.

Zur Normalität wird das Verbrechen nicht, weil die Protagonistin, die Insassin Pannonica, Zdena, eine in sie verliebte Wärterin, zu der einzig richtigen Entscheidung drängt: Die Insassen zu befreien.

Zdena übernimmt Verantwortung.

Welche Verantwortung ist einem Individuum zuzumuten? Sollte jeder den Mut Zdenas besitzen ? Sind die alle anderen Menschen der „Reality-Show“ unfähig?

Ich bin nur ein Mensch unter 8 Milliarden auf dieser Welt, aber ich BIN einer dieser Menschen. Die Welt interessiert es nicht, ob ich lebe, jedes andere Leben funktioniert auch ohne mich und trotzdem habe ich Verpflichtungen.

Verantwortung, Pflichten und eigene, autonome Moral, sind neben dem Tun der Masse, der Gesellschaft, weitere Grenzen meiner Freiheit. Grenzen, nicht zwingend Unterdrückungen.

Es ist nicht gleichgültig, welche Stellung ich in der Masse von 3 Milliarden Menschen besitze.

„Richtschnur und Regel“ von Theodor Storm:

„Der eine Fragt: Was kommt danach?

Der andre fragt nur: ist das recht?

Und also unterscheidet sich

Der Freie von dem Knecht. […]“

Geld, Geburt(sort), Familienstatus, Geschlecht und vieles mehr beeinflussen Freiheit zudem. Noch immer ist es aber die Gesellschaft, die verantwortlich für diese Ungleichheit ist.

Ewiger Frieden wird schon utopisch von vielen Politikern betitelt, von der freien Marktwirtschaft möchte sich keiner entfernen, niemand glaubt daran, alle hungrigen Mäuler der Welt füttern zu können. Gesellschaftliche Freiheit für jeden? Ausgeschlossen.

(Gesellschaftliche Freiheit werde ich jene bezeichnen, die ermöglicht, umgesetzt werden könnte. Sie bedeutet die Möglichkeit, sich den Normen der Masse anzupassen oder sich von ihnen abzugrenzen.)

In Gottfried Kellers „Romeo und Julia auf dem Dorfe“ spricht Vrenchen: >> […] das wir sterben könnten und alles vorbei wäre[..]<< um der Gesellschaft, die nicht das Schicksal für sie vorsieht, wie sie und Sali, ihr Geliebter es sich erträumt haben, zu entfliehen. Die Szene gleicht sich in „Romeo und Julia“ von Shakespeare, hier jedoch entscheiden sich die Parteien nicht mutwillig zum Tode, sondern sterben bei dem Versuch vor der Zwietracht der Familien zu fliehen, aufgrund eines Missverständnisses. In beiden Fällen sind es Zwänge und der Wunsch, die Gesellschaft zu verlassen. Auch in der Liebelei leidet ein Paar unter den unterschiedlichen Einkommensklassen, ähnlich ergeht es den Protagonisten aus „Kabale und Liebe“.

In den Tod flieht auch Emilia Galotti: „Eine Rose gebrochen, bevor der Sturm sie entblätter“, nachdem ihre Liebe zerstört war.

Auch hier ist es die gesellschaftliche Freiheit, die sich missen lässt, unterdrückt durch ihren sozialen Status (o.ä.) können die einzelnen Individuen nicht tun und lassen , was sie für richtig halten.

Trotzdem spielt auch eine neue Komponente  in diese Tragödien ein, man entflieht vor Sorgen, Zukunftsängsten und -plänen, auch vor der eigenen Vergangenheit und trüben Gedanken.

Es ist demnach die Zeit und auch der Raum, der unserer Freiheit Grenzen setzt.

Zeit und Raum jedoch können wir nur erfassen, weil wir uns erinnern können, vorrausschauen und hinterfragen. Javier Marías zeigt uns in seinem Werk „Mein Herz so weiß“ einen inneren Monolog des soeben verheirateten Juan.

„'[…]Und wenn ich diese Bar nun nicht betreten hätte? Und wenn ich nun nicht zu diesem Fest gekommen wäre? Und wenn ich mich nun nicht an einem Dienstag am Telefon gemeldet hätte? Und wenn ich nun nicht die Arbeit an jenem Montag angenommen hätte?‘. Wir fragen uns das naiv und glauben einen Augenblick dann ( aber nur einen Augenblick), dass wir in diesem Fall Luisa nicht kennen gelernt hätten und nicht vor einer unausweichlichen und logischen Situation stünden, von der wir eben deshalb nicht mehr wissen können, ob wir sie wollen oder ob sie uns erschreckt, wir können nicht wissen, ob wir das wollen, von dem wir bis heute glaubten, dass wir es wollten.“

In dieser Reflexion seiner Vergangenheit und auch seiner Möglichkeiten, die er als Alternativkosten zurückließ, erkennen wir vor allem das zweiseitige Geschenk an die Menschheit, sich seinem eigenen Selbst bewusst zu sein und somit auch seiner eigenen Selbstbestimmung.

Freiheit bedeutet die Möglichkeit zwischen verschiedenen Alternativen wählen zu können, es ist die Autonomie des Selbst. Über diese, einst frei getroffenen, Entscheidungen grübelt Juan, auch weil er sich bewusst ist, nicht erneut vor diese Wahl zwischen verschiedenen Alternativen gestellt werden wird.

Das Geschenk unseres Bewusstseins legt uns die Grenzen von Zeit und Raum auf. Wir können einen Moment nicht vollends auskosten wie ein Tier, weil wir gleich unter Sorgen der Vergänglichkeit leiden. Letzteres verursacht vor allem unser Verstand, der uns verbietet, den Moment ohne verwirrende Gedanken zu genießen. Dass jenes uns auch in unserem Alltag belastet, beweisen Therapiemethoden die auf Meditation, also zur Ruhe kommen und Entspannen, aufbauen.

Wir blühen nicht im Augenblick auf, weil wir ein Ich- Bewusstsein besitzen, es ist uns nicht möglich mit dem Ganzen zu verschmelzen. Außerdem ist der besagte Verstand, an das Bewusstsein gekoppelt, ständig am Arbeiten und verdeckt oder vergiftet die Moment-Emotionen.

Ist es deshalb nicht eigentlich der Verstand, der uns die eigentlichen Grenzen der Freiheit aufzwingt? Die Freiheit unsere Emotionen vollends auszukosten?

Ist es nicht unsere evolutionäre Entwicklung von der Ablösung der Instinkte, die uns verbietet,den Moment vollkommen frei auszukosten?

Kant behauptet, ein Mensch, dessen Willen kongruent zu seiner Vernunft ist, bedarf keiner moralischen Gesetze, er würde sie selbst wollend befolgen, freiwillig und deshalb besäße er die Vollkommende Freiheit, uneingeschränkt in seinem Willen von Regeln und Gesetzen.

Derjenige, dessen Willen kongruent zu seiner Vernunft ist, dessen Neigungen ihn also nicht unterdrücken, ist frei.

Mit dieser Sichteise sind es die Emotionen, die uns die vollkommene Freiheit verwehren.

Wenn wir sie als diese als geistige Freiheit benennen, sobald wir uns entschieden haben, was denn nun das Menschliche ist, was Freiheit bedarf (Vernunft oder Neigungen) oder ob es das Produkt Willen des Zwietrachtes ist, haben wir unterschiedliche Freiheiten, die aufeinander aufbauen.

Auf der einen Seite die geistige Freiheit, mit der wir unsere eigenen Werte ermitteln und über unser Handeln entscheiden.  Zudem die gesellschaftliche Freiheit, gemäß unserer Moral zu handeln, entgegengesetzt oder mit den Normen der Gesellschaft. Und, nur kurz zuvor angeschnitten, eine entwickelte Freiheit, gemeint unsere Entwicklung des Bewusstseins, sodass wir von Raum und Zeit gefangen wurden. (Im Gegensatz z.B. zu einem Hund, der das Schnüffeln durch das hohe Gras einfach genießt, währenddessen uns beim Anblick dieser Landschaft tausend andere Gedanken durch den Kopf schießen.) Als letztes ergibt sich natürlich auch die biologische Freiheit: eine absolute Freiheit scheitert natürlich auch an den Grenzen unserer physischen Konstitution.

All diese Freiheiten sind kritisch hinterfragbar: zu allererst natürlich die geistige Freiheit, frei von was denn nun: von Vernunft oder von  Emotionen?

Und natürlich die gesellschaftliche Freiheit: Gesetze sind doch nicht nur Normen, es ist doch bewiesen, dass das Töten anderer nicht zulässig ist.

Und: wie kann ein Hund frei sein? Er weiß nicht einmal, was Freiheit ist, er ist es, der gefangen ist, weil er sein Bewusstsein nicht entwickelt hat.

Die biologische Freiheit, begrenzt durch die physische Konstitution, wurde bisher noch nicht erläutert. Ein Mensch kann nicht fliegen. Er kann nicht ewig die Luft anhalten, er kann nicht so schnell sein wie ein Gepard. Er kann sich entwickeln, ist aber trotzdem von der Evolution abhängig und nicht frei, ich kann nicht sagen: ich will fliegen und brauche Flügel und es wachsen mir zwei Stück.

Auch Maschinen können den Menschen nicht verändern. Wir können mit einem Flugzeug fliegen, aber nicht allein. Die Technik kann fliegen, nicht der Mensch.

In „Sophies Welt“ beschreibt ihr Lehrer dem Mädchen Descartes Sicht auf die Dinge:

„Das Denken ist frei in seinem Verhältnis zur Materie- und umgekehrt: Die materiellen Prozesse operieren ebenfalls gänzlich unabhängig voneinander.[…]Der Mensch hat auch eine Seele, die unabhängig vom Körper operieren kann. Die körperlichen Prozesse haben keine solche Freiheit, sie folgen ihren eigenen Gesetzen. Aber das, was wir mit der Vernunft denken, spielt sich nicht im Körper ab. Es geschieht in der Seele, die von der räumlichen Wirklichkeit unabhängig ist. Ich kann vielleicht auch hinzufügen, dass Descartes nicht ausschließen wollte, dass auch Tiere denken können.“

Auch hier zeigt sich, die physische Freiheit ist beschränkt. Aber bei Descartes zeigt sich eine unabhängig funktionierende Vernunft, für ihn das Denken. Es wurde bereits gesagt, dass der Verstand selbst durch Neigungen beschränkt wird, dennoch spricht aus diesem Text noch ein Bereich des Menschen, der nicht begrenzt wurde, das Denken.

Das Denken mag das Agieren des Verstanden sein, doch das Denken ist keineswegs emotionslos rational: Das Denken ist eine Kombination, eine Durchmischung.

Emotionen sind wertende Reflexionen unserer Umwelt, aus denen wir Kraft für unsere Handlungen ziehen können.

Mit unseren Augen nehmen wir zum Beispiel ein Bild von einem blühenden Rapsfeld auf, wir mögen dieses Bild, wir empfinden eine Emotion, und der Verstand kann die Bewertung als „schön“ in Worte fassen. Aber zum Denken gehört mehr. Denken bedeutet, über Grenzen hinwegzugehen. Wir stellen uns vor, fliegen zu können, ewig unter Wasser schwimmen zu können. Unser Denken unsere Fantasie fusioniert Fische und Menschen zu Meerjungfrauen und Echsen zu feuerspuckenden Drachen.

Vorstellungen entwickeln sich zu Träumen. Diese sind teilweise umzusetzen, wie das Hörspiel „der träumende Delphin“ zeigt, indem vor allem die Kraft des Träumens beschrieben wird.

Träume motivieren, Träume entwickeln neue Techniken. Hätte sich niemals ein Mensch geträumt, fliegen zu können, wären niemals Flugzeuge gebaut worden. Träumen zu können, so zeigt auch die besagte Hörgeschichte, ist eine Kunst, die man nicht verlieren darf.

Der Schlüssel ist Fantasie. Diese, so behaupten viele, besitzen vor allem Kinder, die nicht die vielen Sorgen der Menschheit kennen. Nicht umsonst schreibt Nietzsche in seinem Buch „Also sprach Zarathustra“  die Entwicklung vom Mensch zum Übermenschen verlaufe in 3 Phasen. Zuerst ist das Kamel, das mit seiner Stärke nach dem Schwersten verlangt, daraus entwickelt sich der Löwe, der sich die Freiheit zum Schaffen gegen den Drachen „Du sollst“ der Werte erkämpft. Zuletzt ist das Kind, unschuldig, vergesslich und bereit für einen Neubeginn, bereit um Neues zu schaffen.

Die Grenzen der Fantasie existieren nicht. Natürlich sind unsere Bilder, die wir uns erdenken, oft Kombinationen aus Bildern, die unser Auge erblickt und man sagt, wir können nichts erdenken, von dem wir nicht wissen, dass es das gibt und deshalb sind auch hier Grenzen: Bei unserem Unwissen.

Aber ich denke nicht, dass dies wahr ist. Wir konnten natürlich noch nicht alles erdenken, aber wir können mehr erdenken als sich ein einzelner vorstellen kann. Wenn jemand etwas erdenkt, was es für uns noch nicht existiert, dann ist dies der Beweis für die absolute Freiheit. Selbst die Nichtexistenz können manche, vielleicht nur einen Augenblick lang, erfassen. Vielleicht direkt vor dem Tod und vielleicht haben sie deshalb keine Angst. Das ist eine Vorstellung, vielleicht auch ein Traum. Er gibt Kraft, zum Beispiel gegen die Angst vor dem Tod. Die Ewigkeit liegt im Augenblick.

Und wie der Delphin des Hörstücks sagt: Jeder kann Träumen, nur viele vergessen, wie es funktioniert. Die Delphine in seiner Bucht zum Beispiel müssen fischen um zu überleben, aber sie fischen so viel, dass sie dabei das Leben vergessen  und dieses an ihnen vorüber zieht. Anders als bei dem kleinen Delphin, der träumt, einmal auf der perfekten Welle zu surfen und darin am Ende Absolution findet.

Kinder können nicht besser träumen, sie haben nur eine ganz andere Verbindung zu Träumen, indem sie spielen. Sie setzen ihre Träume um, zum Beispiel mit einer Puppe, die sie durch den Raum fliegen lassen, um ihren Traum zu verwirklichen.

Kinder lassen auch oft die Grenzen der anderen Freiheiten verwischen: Sie vergessen die Zeit, spielen 5 Stunden allein in ihrer Ecke und denken dennoch, es seien grad einmal zehn Minuten vergangen. Kinder verschließen ihre Träume, weil sie sich einer physischen Grenze gegenüber sehen.  Sie spielen trotzdem Gepard, sie klettern trotzdem auf Bäume und richten sich dort ein Baumhaus ein, das sie ihren Lebtag nicht verlassen wollen und wenn sie dann auf die Toilette müssen, gehen sie und klettern danach erneut hoch, ohne ihren Traum aufzugeben.

Die denkerische Freiheit gibt uns die Möglichkeit, die entwickelte, physische, gesellschaftliche und geistige Unterdrückung im Kopf zu überwinden und deshalb leben die  Verrückten, wie in Paulo Coelhos Werk, nur schlichtweg in ihrer eigenen gedachten Welt.

In dem Jugendbuch „Freeway“ findet sich im letzten Absatz folgende Aussage:

„Ich sehne mich nach einem prickelnden, aufregenden Leben. Wenn ich mich nachts aus dem Fenster lehne, kann ich es schmecken. Da draußen ist es und wartet nur auf mich.“

Das Mädchen Rosi wünscht sich die Flucht aus der Realität, Normalität. Für die sie nur durch ihren, soeben zitierten, Traum vom „mehr“ motiviert wird. Ähnliches geschieht mit Veronika (beschließt zu sterben), die ihren Traum vom Leben, das Lebenswerte, erst nach ihrem Selbstmordversuch, entdeckt.

Stellen sie sich vor, alle Grenzen wären aufgehoben: Das Chaos wäre schlimmer als in jedem Kinderzimmer, Raum und Zeit würden nicht mehr existieren oder Jetzt und gestern könnten mit einem Schritt überwunden werden…. Es ist undenkbar, aber möglich, in unserer Vorstellung. Vor 500 Jahren hätte auch noch niemand geglaubt, dass man heute fliegend den großen Teich überwinden und einen schwarzen amerikanischen Präsidenten auf der anderen Seite vorfinden würde.  Gab es damals denn überhaupt schon das Weiße Haus?

 

Das gute Leben

Sieht ein gutes Leben vielleicht so aus?

Julius Stahnke

Geduld und Gnade

Hi Leute,

Willkommen bei meinem Blog. Heute wird’s sehr tiefgründig und philosophisch.

Wer hat nicht schon zu hören bekommen, dass die Schule oder manches andere nur dazu dient, ein gutes Leben zu ermöglichen?! Aber was zur Hölle ist ein „gutes Leben“? Wenn es nach unseren Eltern geht, scheint ein gutes Leben zu bedeuten, immer genug Geld zu haben. Geht es nach unseren Lehrern, scheint ein gutes Leben zu bedeuten, frustrationstolerant genug zu sein, nicht jeden, der einem tierisch auf die Nerven geht, mit Forken und Mistgabeln durch die Stadt zu jagen. Auch wenn sie’s manchmal echt verdient hätten.

Aber was ist ein gutes Leben für uns, die Jugend dieses Landes?

Ich kann natürlich nur für mich sprechen, deshalb mailt mir oder schreibt eine Bewertung oder einen Kommentar!

Für mich bedeutet, ein gutes Leben zu führen, wie meine Eltern es wollen, das Geld zu haben, mir meine Träume zu erfüllen. Wie meine Lehrer es wollen, Geduld mit den Schwachen, Armen, Alten und geistig Eingeschränkten zu haben. Die Güte zu haben, mich am Lärm der Kinder zu erfreuen und ihrer nicht zu zürnen.

Ein weiser Mann (fragt mich bitte nicht, wer!) hat einmal gesagt:

„Wie weit du im Leben gekommen bist, hängt davon ab, wie gütig du mit den Kindern, wie gnädig mit den Schuldigen, wie geduldig mit den Alten und wie mitfühlend mit den Kranken du gewesen bist, denn eines Tages wirst du das alles gewesen sein.“

Danach versuche ich mich, so gut wie möglich, zu richten.

Ich freue mich auf eure Reaktion!

Euer Julius Stahnke

 

J.K.

Wer keinen Spaß am Leben hat, kann nicht wissen, wie ein gutes Leben sich anfühlt

Für mich ist ein gutes Leben, eine Familie zu haben, die einen liebt, immer hinter einem steht und unterstützt, Freunde zu haben, mit denen man durch dick und dünn gehen kann, und mehr Wert auf die Sonnenseiten des Lebens zu legen. Doch was wäre ein gutes Leben ohne Höhen und Tiefen? Wenn man keine Tiefen erlebt hat, kann man ja gar nicht wissen was ein gutes Leben ist, bzw., wie es sich anfühlt, weil einem die Höhen so selbstverständlich sind.

Außerdem zeichnet sich ein gutes Leben durch Freude am Leben, Lebensfreude eben, aus. Wer keinen Spaß am Leben hat, hat auch keine Lust weiterzuleben. Doch insgesamt, meine ich, kann man „gutes Leben“ schwer definieren. Für jeden Einzelnen ist es etwas anderes und wird es auch immer bleiben.

 

 

Giovanni Wodetzki

Einzigartige Situationen erleben

Hi Leute,

Ihr habt mir ein paar schöne Fragen gestellt, und die Frage, die ich jetzt beantworte lautet: Was ist ein gutes Leben? Weil mir die Antwort dann leichter fällt, ändere ich die Frage geringfügig: Was ist ein schönes Leben? (Vielleicht läuft es ja auf das Gleiche hinaus.)

Also, ein schönes Leben zeichnet sich durch einzigartige Situationen aus. Diese erlebst du fast immer mit Personen, die dir besonders wichtig sind. Mir ist aufgefallen, dass man sich daran erinnert, wenn man über genau jene Personen nachdenkt.

Ich weiß auch, dass niemand ein nur schönes und gutes Leben haben kann. Aber wenn man einige Situationen von der nicht schönen Sorte erlebt hat, werden die wirklich schönen Erlebnisse noch schöner: Man vergisst sie sein ganzes Leben nicht. Also, ihr seht, das ganze Leben ist nie gut, jedoch kommt es auf die Erlebnisse an, die ihr mit besonderen Personen teilt.

Ein gutes Leben hast du dann gelebt, wenn du im Großen und Ganzen ein gutes Gefühl hast, an die schönen Zeiten denkst, die dich positiv oder sogar negativ beeinflusst haben.

Also: Lebt euer Leben und trauert nicht allem nach!!

G.F.W.

 

 

 

Anonyma

Wenn du am Ende über deine Fehler lachen kannst: Si tu regrettes rien

Hey meine Lieben,

heute mal wieder ein etwas sentimentaler Post, ich entschuldige mich schon mal vorweg, und diejenigen, die solche Posts nicht mögen, können jetzt gerne auf das rote Kreuz drücken. Okay, fangen wir also an. Bereit? 3…2…1.

Meine Großmutter ist letzte Woche gestorben. Einfach so an Altersschwäche. Nichts Dramatisches, hat nur aufgehört zu atmen. Ich weiß nicht so recht, wie ich mich fühlen soll, im Moment ist alles noch so ein Mischmasch aus trauer, Wut und … Einsamkeit. Wir standen uns nie sonderlich nah, aber sie fehlt mir so sehr, und eine Sache, die sie zu mir gesagt hat, als wir das letzte Mal gesprochen haben, gibt mir zu denken. Den genauen Wortlau habe ich nicht mehr im Kopf, aber es war irgendwas über ein „gutes Leben“ und was das eigentlich sein sollte.

Ja, was ist ein gutes Leben? Für mich ist die Antwort klar. Wenn man am Ende des Lebens seine Fehler nicht bereut, sondern über sie lacht. Wenn man zurücksehen und sagen kann: „Alles in allem war mein Leben keineswegs perfekt, aber ich habe jeden einzelenen Moment genossen.“

Im Enddefekt (kein Schreibfehler der Verfasserin!, U.M.) zählt doch nur, dass man selbst zufrieden ist, nicht, wie andere über mein Leben urteilen.

Daher kann ein gutes Leben alles Mögliche sein und enthalten: Kinder, keine Kinder, Ehemänner, Affären, Freunde, Feinde, Weltreisen, jedes Jahr einmal an die Ostsee, ein sicherer Bürojob, eine unsichere, dafür aber unwahrscheinlich spannende Arbeit …

Ein gutes Leben ist das Leben, in dem man für sich selbst und nicht für andere lebt. Mut zur Selbstständigkeit, Mut zur Eigeninitiative, Mut, anders zu sein. Mut zum Leben.

Wenn ich so lebe und dann sterbe, dann gibt es nichts zu bereuen. Dann bin ich glücklich.

Erstellt am 15.05.2011 um 10:14 Uhr

Romina Zech

Anderen helfen und für die eigenen Überzeugungen kämpfen

Meine Vorstellungen eines guten Lebens sind wahrscheinlich etwas umfangreicher als die der meisten. Meine Mutter sagt mir immer, ich setze mir zu hohe Maßstäbe.

Ich kann erst dann mit mienem Leben zufrieden sein, wenn ich auch etwas erreicht habe. Es gäbe für mich nichts Schlimmeres, als einfach die Schule zu beenden, dann einen Beruf zu ergreifen und mich „erfolgreich in die Gesellschaft zu integrieren“. Oder erst als Hausfrau zu enden! Ich würde gern etwas bewegen, Menschen helfen und Werte ändern. Ich bin in einer Familie erzogen worden, in der zwarcdas typische Familienbild gebrochen wurde, imdem mein Vater Hausmann ist und meine Mutter arbeitet. Allerdings wurde mir von Kind an konservatives Schubladendenken beigebracht. Und wie jedes Kind, strebe ich natürlich das genaue Gegenteil meiner Eltern an. So ist mein Ziel, anderen Menschen auf ihrem Weg zu helfen, auch wenn ich dabei mein Eigenes vernachlässigen sollte.

Im Moment spüre ich einfach nur den Drang auf die Straße zu gehen, zu demonstrieren und für meine Überzeugungen (und die vieler anderer) zu kämpfen. Sollte ich damit etwas erreichen und die Lebensqualität der nächsten Generationen, vor allem deren Auffassung von Toleranz und Akzeptanz verändern und verbessern, bin ich ein glücklicher Mensch. Dann kann ich sagen, mein Leben war ein gutes und ich habe etwas erreicht!

 

 

Der Weg zur Aufklärung …

 

Leben wir in einem aufgeklärten Zeitalter?

 

Wir leben in einem informierten, aber nicht aufgeklärten Zeitalter

Von Lucia Druba

„Aufklärung, das ist Licht ins Dunkel bringen.“ So wurde und wird Aufklärung oft beschrieben. Doch wo findet sich das in unserem Zeitalter wieder? Inwieweit ist die heutige Welt aufgeklärt und inwieweit nicht? Wir wissen viel mehr als die Menschen im 18. Jahrhundert, doch bedeutet das nicht, dass die Menschen nicht weiterhin an Religion, Traditionen und teilweise sinnlosen Konventionen festhalten.

Ich stelle die These auf, dass wir zwar in einem informierten, jedoch nicht in einem aufgeklärten Zeitalter leben.

Dafür spricht, wie bereits angesprochen, dass die meisten Menschen einer Religion angehören. Diese bringt eine Menge Unwissenheit und Vermutungen mit sich, denn der Glaube ist bei den wenigsten Religionen beweisbar. So glauben immer noch Menschen an die Schaffung der Erde und die Schöpfung des Menschen durch Gott vor wenigen tausend Jahren, obwohl es stichhaltige Beweise für die Evolution vor vielen Millionen Jahren gibt.

Nicht alle, nicht einmal viele, scheinen nach der Erkenntnis zu suchen, ihnen gefällt das Dunkel der Unwissenheit. Sogar jene, die der Evolution Glauben schenken, singen am Sonntag in der Kirche Lieder über die Schaffung der Erde durch Gott. Die Wahrheit scheint also nicht ihr Ziel zu sein, was sie zu unaufgeklärten Menschen macht.

Andererseits, wenn man den Fortschritt als eines der wichtigsten Merkmale der Aufklärung betrachtet, so müsste unser Zeitalter doch sehr aufgeklärt sein, da die Menschheit stets bedacht ist zu forschen und zu erfinden und damit nach der völligen Aufgeklärtheit zu streben scheint. Es ist nicht genug, soviel zu wissen und zu besitzen, wie man zum Leben braucht. Es muss immer noch mehr möglich sein. Noch mehr Komfort, noch mehr Schnelligkeit, noch weniger Aufwand. Man bedenke nur einmal den rasanten Fortschritt in der Entwicklung des Internets und der Handys. In den Menschen scheint also ein gewaltiger Drang nach Neuentdeckungen, Vielfalt und Genauigkeit zu stecken. Es sieht so aus, als suchten sie die Erkenntnis. Also doch ein aufgeklärtes Zeitalter?

Kaum vorstellbar, bedenkt man die vielen „Tabu-Themen“, die es heute immer noch gibt. Sicherlich ist eine Besserung zu verzeichnen, aber ist das, was man in unserem Zeitalter an Konventionen gegenüber bestimmten Themen vorfindet, wirklich aufgeklärt? Beinhaltet Aufklärung nicht auch, dass man sich der Prozesse und Dinge um einen herum und deren Bedeutung bewusst ist? Unsere Gesellschaft scheint sich dieser schließlich nicht vollends bewusst zu sein, wenn man zum Beispiel den Umgang mit Tod, Stuhlgang und ungewöhnlichen Beziehungsmodellen bedenkt.

Der Tod ist, wie jedem Menschen bewusst sein müsste, die natürlichste Sache der Welt. Kein Lebewesen kann ewig leben. Es ist so gegeben, letztlich bleibt einem nichts als es zu akzeptieren. Den Tod allerdings wirklich zu akzeptieren, und das meint in jeder Lebensphase, erfordert ein solches Maß an Aufklärung, dass es nahezu die Grenzen der Vorstellungskraft sprengt. Aber die Menschen schaffen es nicht, offen darüber zu reden. Sagte man an dem dritten Geburtstag eines Kindes: „3 Jahre schon, das erreicht auch nicht jeder“, so erntete man entsetzte Blicke, weil es makaber klingt. Und dennoch ist es, im Hinblick auf Kinder in Krisengebieten oder ohne medizinische Versorgung, eine realistische Aussage.

Unser Zeitalter ist gezeichnet vom Fortschritt in vielen Bereichen. Wir wissen immer mehr und wir müssen immer mehr wissen, um in der heutigen Gesellschaft zu bestehen. Stillstand hat eben noch nie etwas bewegt. Und Bewegung wollen wir, obgleich uns unsere Entwicklungen bedrohen, und damit meine ich zum Beispiel Atombomben und den durch Menschenhand ausgelösten Klimawandel.

Es ist aufgeklärt, erkennen zu wollen, alles wissen und erreichen zu wollen. Freiheit zu wollen. Aber wie könnte man behaupten, wir würden in einem aufgeklärten Zeitalter leben, wenn es doch so vieles gibt, was dagegen spricht? Einerseits wollen wir zwar Vervollkommnung, Bildung, Fortschritt und Freiheit, aber andererseits ist unser Geist noch längst nicht frei. Auch die Menschen in unserem Zeitalter halten, vielleicht sogar zum Glück, noch fest an in ihrem Sinn nicht nachweisbaren Regeln. Sie sind in dieser Hinsicht unaufgeklärt. Sie wollen kein Licht in jedem Dunkel.

Ich komme zu dem Schluss, dass meine anfängliche These stimmt. Die Menschen in unserem Zeitalter sind informiert, sie wissen viel und streben nach Erkenntnis, aber – und das ist der entscheidende Punkt – nicht in jeder Hinsicht. So leben wir vielleicht in einem Zeitalter der Aufklärung, jedoch nicht in einem aufgeklärten Zeitalter.

Moralische und technische Komponenten ausgleichen, Emotionen und Rationalität vereinen

Von Celina Schmidt de Ccahuana

Wollen wir erläutern, ob das gegenwärtige Zeitalter aufgeklärt ist, brauchen wir ein einheitliches Verständnis von den Worten „Aufklärung“ und „aufklären“.

Zu Beginn lesen wir die Abhandlung Kants >Was ist Aufklärung?<.

Immanuel  Kant beschreibt die Aufklärung als den autonomen Gebrauch unserer von der Natur gegebenen Vernunft. Ein aufgeklärter Mensch denkt demnach selbstständig, ohne von anderen oder seinen Neigungen in bestimmte Richtungen gedrängt oder geleitet zu werden. Kant bezeichnet ihn als „mündig“.

Unmündig (mit einem fremdgeleiteten Willen) hingegen sind Menschen, die ihren Verstand nicht ohne Leitung anderer gebrauchen. Hierbei unterscheidet er zwischen einer unverschuldeten Unmündigkeit (z.B. bei Mangel des Verstandes) und dem selbstverschuldeten Unvermögen selbstständig zu denken, das, so Kant, durch Feigheit, Faulheit und den Entschluss, den Verstand nicht ohne Leitung anderer zu gebrauchen, entsteht.

Feigheit und Faulheit sind die Ursache für eine lebenslängliche Unmündigkeit, die oft auf Bequemlichkeit beruht und nur schwer überwunden werden kann. Die Vormünder, die das Denken der Anderen beeinflussen, verbreiten Angst vor dem unabhängigen Denken. Derjenige, der es dennoch versucht, wird, auch wenn die Möglichkeit besteht, durch anfängliche Fehler zu lernen, oftmals nach dem ersten Missgeschick aufgeben und die vorgewarnte Angst bestätigt sehen.

Es gibt deshalb nur wenige, die es tatsächlich schaffen, sich allein aus ihrer Abhängigkeit zu befreien und sich durch einen sicheren Schritt im freien Denken auszuzeichnen. Laut Kant ist die Entwicklung zur Selbstständigkeit des Denkens jedoch unausbleiblich, sobald einem „Publikum“ die Freiheit dazu gelassen wird. Einzelne, die bereits mündig sind oder werden, helfen, so Kant, den anderen Gruppenmitgliedern, ihre Vernunft sachgerecht zu verwenden.

Kritik übt  Kant hierbei allerdings an einer gewaltsamen Revolution, welche die alten Vorurteile nur durch neue ersetzt, anstatt die Freiheit des einzelnen Geistes vorauszusetzen. Letzteres ist auf gewaltsamem Wege nicht zu verwirklichen, sondern nur durch Aufklärung im Sinne von schrittweisen Reformen des Denkens und Handelns.

Aufklärung ist demnach das Ausschöpfen der Freiheit, seine Vernunft grenzenlos verwenden zu können, aber auch die Kunst, hierbei nicht von seinen Neigungen gelenkt und beeinflusst zu werden.

Nach Immanuel Kants Philosophie ist die aus der Vernunft resultierende Handlung mit dem kategorischen Imperativ überprüfbar. (Vor allem, ob jene Handlung wirklich ohne jegliche Neigung zustande kam). Ein aufgeklärtes Leben führt der  Mensch, der den von ihm autonom geprüften Regeln („Maximen“) des Handelns folgt.

Die Philosophie Kants wertet das Vertrauen auf die Leitung und Hilfe durch andere als heteronom ab. Auf Hilfe und Vertrauen zu verzichten würde jedoch bedeuten, alles selbst neu durchdenken und hinterfragen zu müssen. Sollte die Menschheit Kants Aufforderung erfüllen, wäre ein Rückschritt unserer Entwicklung zu erwarten. Zum Beispiel müsste jedes grundlegende Gesetz, auch naturwissenschaftlicher Art, von jedem hinterfragt und selbst hergeleitet werden.

Es stellt sich die Frage, ob Mitglieder des zuvor beschriebenen Publikums, die erst zum Sich-Aufklären angeleitet werden müssen, schließlich wirklich als mündig oder aufgeklärt  zu bezeichnen sind.

Auch der kategorische Imperativ ist in unserer heutigen Gesellschaft nicht mehr legitim. Wir können nicht sicherstellen, dass eine Handlung wirklich autonom geprüft wurde, denn es gibt niemanden, der dies beweisen könnte.  (Dieser Jemand müsste sich aller Folgen einer Handlung bewusst  und autonom sein und dies außerdem den Menschen beweisen können).

Selbst wenn ein Mensch fest davon überzeugt ist, autonom auf eine Handlung geschlossen zu haben, können wir uns der Richtigkeit dieser Lösung nicht sicher sein: Er könnte unbewusst von Neigungen beeinflusst worden sein, wie auch jeder weitere, der die Handlung zu prüfen versucht.

Selbst wenn der Mensch in der Lage wäre, den kategorischen Imperativ konsequent  anzuwenden, müsste ein aufgeklärtes Handeln in unserer gegenwärtigen Gesellschaft scheitern. Jeder von uns unterliegt selbst im Alltag Zwängen, die er nicht überwinden kann. Wir sind aufgeklärt, wissen, dass es der Umwelt schadet, wenn wir mit dem Auto oder dem Bus zur Arbeit fahren, aber um unseren Lebensunterhalt zu verdienen, müssen wir es dennoch tun. Wer nun widerspricht und dafür plädiert, das Fahrrad zu gebrauchen, dem muss dennoch bewusst sein, dass er oft Nahrung zu sich nimmt, die nicht aus seinem Garten stammt, sondern womöglich eingeflogen wurde.  Wir haben auch nicht mehr die Möglichkeit, unser Leben als integriertes Mitglied unserer Gesellschaft hinter uns zu lassen und alleine, womöglich auf einer  kleinen Insel, ein, nach Kant, „aufgeklärteres“ Leben zu führen. Denn zum einen wäre ein aufgeklärter Mensch dazu verpflichtet, gegen die Zerstörung unserer Welt vorzugehen (hierbei würde er scheitern und womöglich  weggesperrt). Zum anderen ist er schlichtweg evolutionstechnisch nicht mehr in der Lage zu überleben. Ohne Kleidung würden wir einfach erfrieren.

Es bleibt die Frage, ob es für uns möglich wäre, aufgeklärt zu leben, wenn wirklich jeder von uns den kategorischen Imperativ richtig anwenden und danach handeln würde.

Ich denke nein. Wir sind schon zu viele für diese Welt geworden, um aufgeklärt zu leben. (Die Größe unserer biologischen Fußabdrücke umfasst einfach mehr als unsere Welt.) Vielleicht können wir der Umweltzerstörung auch nur durch vom kategorischen Imperativ nicht geprüfte Forschungen entgegenwirken. Dann wäre zu glauben, dass es für den Weg, den Kant einschlagen wollte, schlicht zu spät ist.

Folgen wir Kant, so führt der autonome Gebrauch der Vernunft zum Allgemein- und Eigenwohl. Ist unser Wille nicht fremdgeleitet, sondern entspricht der Vernunft, sind wir frei. Der Egoismus ist nach Kant eine Neigung, die uns evolutionsbiologisch als Trieb zur Sicherung unseres Lebens und das unserer Nachkommen in die Wiege gelegt worden ist: Eine gute Mutter wird, um ihr Kind zu schützen, jedes Mittel ergreifen. Ihre Handlung ist vom kategorischen Imperativ natürlich nicht legitimiert, auf keinen Fall zu universalisieren. Ist der Wille jedoch im Sinne  Kants fremdgeleitet, ist die Mutter in der vorliegenden Situation nicht in der Lage, autonom, richtig zu handeln. So „fremdgeleitet“ handeln wir Menschen aber seit unserer evolutionären Entstehung einfach, damit unsere Art bestehen bleibt.  Es scheint uns also von Anfang an unmöglich gewesen zu sein nach Kant aufgeklärt zu handeln und zu überleben.

Ein aufgeklärtes Leben nach Kants Vorstellungen erscheint uns als rational. Emotionen sollen, sofern sie nicht kongruent mit dem autonomen Denken verlaufen, ignoriert werden. Wer gegen die Vernunft aus Liebe und Zuneigung handelt, ist unmündig. Kant verspricht uns, am Ende erreiche man mit der Aufklärung ein allgemeines Wohl und Freiheit, sofern Wille und Vernunft übereinstimmen. Wir müssen uns fragen: Ist es uns der nie endende Aufklärungsprozess wert, unsere Emotionen zurückzustellen?

Für Kant ist es menschlich, seine Vernunft zu benutzen. Es ist die uns allein eigene, natürliche Gabe, die wir verwenden sollen. Aber Gottfried Benn beispielsweise  würde ihm an dieser Stelle widersprechen: Er kritisiert die aus der Aufklärung resultierende Verweltlichung, sieht einen Verlust unserer Menschlichkeit, beklagt das Opfer der  Natürlichkeit, das der Fortschritt fordert. Der Mensch verliert durch die Wissenschaft seine Bedeutung, wir sind ein Staubkorn im Vergleich zu dem Universum, gleichzeitig versuchen wir, das Ende der Unendlichkeit zu erfassen. Wir verlieren unsere Tradition, benehmen uns wider unsere Natur, legen uns am Morgen schlafen und arbeiten nachts. Bei Kant zeigt sich eine hübsche Theorie: ‚Denk Mensch‘, dann bist du menschlich und natürlich. Bei Benn zeigt sich eine andere Seite der Aufklärung, die jeder von uns von klein auf kennt: Sobald die Schule beginnt, uns über die fehlende Existenz von Zauberern und Feen aufzuklären, verkleinert sich unsere fantasievolle Welt ein wenig.

Seit der Aufklärung streiten sich also die Menschen, ob wir mit der Wissenschaft nicht „versuchen Gott zu spielen“. Gerade jetzt diskutieren Politiker über die Präimplantationsdiagnostik, bezeichnen jene Wissenschaft als unmenschlich oder die Kritiker als rückständig.

„Leben wir in einem aufgeklärten Zeitalter?“

Nach Benns Meinung müssen wir hoffen, dass wir es nicht tun. Klar ist: Eine richtige Antwort ohne präzise Begriffserläuterung von Menschlichkeit und Natürlichkeit lässt sich nicht erreichen. Hier kann also jeder die gestellte Frage für sich selbst beantworten, eine universelle Lösung gibt es nicht, da Menschlichkeit und Natürlichkeit Wert-Begriffe sind, und die Werte eines jeden u.a. von dessen persönlicher Erfahrung abhängen.

Mit dem Verständnis von Martin Wieland könnte uns eine allgemeingültige Antwort vielleicht gelingen. Wieland vertritt die These, dass aus der Erkenntnis Klarheit, Wahrheit und Gerechtigkeit resultieren.  Um Erkenntnis als Aufklärung zu erlangen, nennt er zwei Voraussetzungen: Erstens muss der Mensch „sehfähig“ sein, vergleichbar mit Kant, der den Besitz der Vernunft voraussetzt. Zweitens muss genug Licht vorhanden sein. Wieland setzt also voraus, dass Erkenntnis nicht zwingend immer zu erlangen ist. Ein aufgeklärtes Zeitalter ist für Wieland also auch eines, in dem genug Licht vorhanden ist, um alle Erkenntnisse erreichen zu können. Diese Möglichkeit besteht in unserem Zeitalter durchaus: Wir haben alle Mittel, uns weiter zu bilden, den Wissensfluss zu nutzen. Und das heißt auch: In unserem gegenwärtigen Zeitalter müssen wir Menschen nicht zwangsläufig aufgeklärt sein, damit das Zeitalter selbst „aufgeklärt“ heißt.

Zu einem ganz anderen Ergebnis kommen wir, wenn wir René Descartes hinzuziehen. Er führt ein Gedankenexperiment durch: Alles um mich herum, alle meine Sinne sind Trug. Ein sehr geschickter Betrüger lässt mich diesem Trugbild sicher sein. Ich kann demnach nicht sicher sein, zu existieren, außer wenn ich denke, denn diese Fähigkeit kann ein Betrüger nicht kontrollieren: Ich denke, also existiere ich. Ich existiere, solange ich denke („Cogito ergo sum“). Nur der denkende Mensch ist aufgeklärt. Es zeigt sich: Descartes baut in seinem Verständnis der Aufklärung nur auf die menschliche Fähigkeit zu denken. Um unsere Frage zu beantworten, ob ein Zeitalter aufgeklärt ist, zählt nur der darin lebende Mensch. Um die Antwort zu finden, haben wir zwei Vorgehensweisen:

Wir orientieren uns an allen Menschen und fragen uns, ob alle denken, oder wir versetzen uns in das Experiment von Descartes: Im letzteren Fall zählt einzig, ob wir, also „ich“, das Individuum denkt.

Ich denke, also existiere ich und bin aufgeklärt. Und da das aufgeklärte Zeitalter von dem darin lebenden Menschen abhängt, hängt es einzig von mir ab: Die Existenz anderer Wesen kann Betrug sein. Bin ich aufgeklärt, ist es auch mein Zeitalter. Bin ich es nicht, kann auch ich diese Zeit nicht derart bezeichnen.

Wir haben nun vier verschiedene Philosophen zu der Beantwortung der Frage hinzugezogen und vier individuell verschiedene Antworten erhalten.  Es kommt aber darauf an, was wir über die Begriffe „menschlich“ und “natürlich“ denken, was uns am wichtigsten erscheint: die „Vernunft“, der „Verstand“, die „Emotionen“ oder was sonst. Welches Menschenbild besitzt unser Zeitalter?

Also: Fragen wir uns, warum es uns Menschen überhaupt wichtig ist, aufgeklärt zu sein? Die Antwort ist gar nicht so schwer: Wir wollen aufgeklärt sein, um ein besseres Selbstwertgefühl zu besitzen. Wir wollen nicht der einzige sein, der zugeben muss, nicht aufgeklärt zu sein. Und wir erhoffen uns mit der Beantwortung der Frage „Was ist Aufklärung“ zugleich eine Lösung für die Frage nach dem Sinn unseres Lebens.

Wichtig für unser Verständnis von „Aufklärung“ ist zunächst unser Begriffsgebrauch. Denn nach Ludwig Wittgenstein heißt ein Wort verstehen, wissen, wie es verwendet wird. So gebrauchen wir „aufklären“ in den Bedeutungen: selbst denken, hinterfragen, beantworten, sich bewusst sein, sich bewusst werden, (sich) klar werden, (sich) klar machen.

Heute sind wir in verschiedenen Bereichen verschieden aufgeklärt im Sinne von erkenntnisreich.

Wir stellen Fragen, und die Wissenschaften forschen nach ihren Antworten. Wir sind in dieser Hinsicht also aufgeklärter als im Zeitalter der Aufklärung, aber uns ist auch bewusst, dass es niemals ein Ende dieses Wissensflusses geben kann. Eine Antwort wirft oft neue Fragen auf oder ein neues technisches Gerät zeigt uns noch eine viel kleinere Teilchenebene, die uns bis dato vollkommen unbekannt war. Wir erreichen also auch in tausend Jahren kein „aufgeklärtes“ Zeitalter.

Oft zeigt sich uns aber auch, dass die Praxis der Theorie widerspricht. Dass Facetten des einen Bereichs den nächsten widerlegen. Besonders fallen uns solche Widersprüche in der Philosophie auf, in der Begründung von Werten und Normen.

Die Umsetzung der Aufklärung in verschiedenen Teilgebieten, mit denen wir Menschen uns beschäftigen, ist vielleicht am rückständigsten. Es gibt viele verschiedene Theorien über Zusammenarbeit und Kommunikation, aber die Bereiche untereinander bringen sich in der Praxis nicht auf einen gemeinsamen Stand der Dinge. Wir wissen, unsere Umweltverschmutzung zerstört unseren Planeten, aber es gibt keinen internationalen Konsens darüber, dieser Zerstörung entgegenzuwirken.

Trotzdem ist festzuhalten: eine vollkommene Aufklärung im Sinne von „wissen“ und „selbstdenken“, “hinterfragen“ und „selbst herleiten“ ist undenkbar. Wir können unmöglich alles wissen, weder unsere gesamte Art (selbst dann bleiben einige Geheimnisse unerschlossen), noch der einzelne Mensch. Auch Aufklärung im Sinne einer vollkommenen Rationalität, getrennt von jeglichen Emotionen, können wir nicht nachvollziehen denn wir wissen: Unsere Aufklärung vollstreckt sich nur aufgrund unseres Wunsches, unseres Ziels, aufgeklärt zu sein. Wer, wenn nicht die Emotionen, sollten uns dazu bringen, die „Bequemlichkeit“, sich bevormunden zu lassen, aufzugeben?

Und die Aufklärung vollzieht sich einzig dank eines Ziels, meist in Form eines Wertes, der für unsere emotionale Seite von enormer Wichtigkeit ist: Gerechtigkeit, Allgemeinwohl, Glückseligkeit, Ende der Suche nach dem Sinn des Lebens, Ende aller Unzufriedenheit. Emotionen führen zur Aufklärung, und deren Vollkommenheit  streben wir an, weil wir uns von ihr eine Lebenssinnerfüllung erhoffen.

Aber was ist nun Aufklärung?

In allen Bereichen unseres Zusammenlebens begegnen uns Zwiespälte. Sich damit zu konfrontieren, Lösungen zu suchen, das ist meine Aufklärung.

Sich mit dem ethischen Hintergrund der Präimplantationsdiagnostik zu beschäftigen, ist Aufklärung, aber auch, die tägliche Mülltrennung bewusst zu vollziehen, gehört dazu.

Es gibt eine moralische Aufklärung, die uns Werte und Normen offenbart und eine wissenschaftliche Komponente, die unsere Technik immer weiter voran schreiten lässt. Vor allem hier, in der Wissenschaft, scheint es einen Zwiespalt zu geben. Denn ist jeder Fortschritt gut? Können wir den Fortschritt ethisch vertreten?

Darüber zu streiten, sich damit auseinanderzusetzen, zu diskutieren ist Aufklärung. Moralische und technische Komponenten auszugleichen, um eine Grundlage für eine humane, vertretbare Weiterentwicklung zu schaffen. Die Feinde der Aufklärung sind eine fehlende Zusammenarbeit,  ein mangelndes Einfühlungsvermögen, Egoismus, Ignoranz und die Versuche, unbequeme Erkenntnisse zu verdrängen. Die Aufklärung ist dazu da, Emotionen und Rationalität zu vereinen und einen Kompromiss zu finden, sie ist das Bewusstwerden. Emotionen selbst sind in diesem Fall als Reaktion unserer unbewussten Bewertung der Umwelt zu verstehen, die uns Energie und Kraft zum Handeln und Einwirken auf eben jene Umwelt geben.

Und leben wir nun in einem aufgeklärten Zeitalter oder nicht?

Wir Menschen diskutieren viel, wir sind fortschrittlich. Wir wissen mehr als früher, es gibt mehr, dessen wir uns bewusst werden können. Aber wir sind uns im Vergleich zu früheren Epochen auch weniger der Kleinigkeiten des Alltags bewusst, oft nicht einmal unseres technischen Fortschritts.

Deshalb gibt es auch mehr, dessen wir uns nicht bewusst werden können. Aber dadurch, dass uns die gegenwärtige Zeit die Möglichkeit gibt, uns aufzuklären, ist sie in meinen Augen aufgeklärt. Gleichgültig, ob wir Menschen diese Möglichkeiten nutzen oder nicht.

 

 

Zufrieden lauscht das Gnu den Klängen: Ist Musikhören Luxus oder Grundbedürfnis? Nur als letzteres wäre es nach Epikurs Lebenslehre ein erlaubtes Lust- und Genussmittel.

Wie müsste ein heutiger Epikureer sein Leben führen?

1.

Um ein glückliches Leben zu führen, muss man sich nach Epikur, dem Begründer der Schule der Epikureer, die Lust und den Genuss als Ziel setzen. Dabei wird der Schwerpunkt des Lebens allerdings auf das innere Glück gelegt.

Ein heutiger Epikureer müsste abwägen und unterscheiden zwischen notwendigen natürlichen, natürlichen und nichtigen Bedürfnissen. So sollte er auf jegliche Art von Luxus verzichten, da dieser zur dritten Kategorie gehört und das Erreichen wahrer Lust verhindert. Auch Reisen und Genussmitteln (Zigaretten, Alkohol, Kaffee) hätte er zu entsagen, wenngleich sie natürliche Bedürfnisse sind, die jedoch ohne Gefahr für Leib und Leben verzichtbar sind. Nur Grundbedürfnisse wie Nahrung und Schlaf müsste er befriedigen, um den Genuss voll leben zu können.

Doch damit nicht genug. Ein Epikureer müsste sich aus öffentlichen Dingen weitgehend heraushalten, dürfte nicht an der Politik teilnehmen oder sich näher mit ihr befassen. Er sollte sich im Verborgenen halten, sein Leben so gut wie möglich im Privaten führen, umgeben von Freunden. Er hätte sich auf sein Inneres zu konzentrieren und alles zugunsten des Genusses, d.h. seines körperlichen und seelischen Wohlbefindens, abzuwägen.                          (Julia Schmolling)

 

2.

Epikur versucht den Umgang mit der Lust zu kalkulieren, um sich einen Weg zur größten Zufriedenheit zu bahnen. Körper und Geist sollen unbeschwert mit den notwendigen Verrichtungen des Lebens zurechtkommen, indem sie sich an Einfaches gewöhnen und Kostspieliges vermeiden. Er legt sehr großen Wert auf ein freies Leben ohne Sorgen und Probleme, versucht sich gewissermaßen mit dem Leben anzufreunden: physisch ohne Schmerzen und seelisch ausgeglichen, also in vollkommener Gesundheit zu leben.

Prinzipiell ist seine Auffassung zeitlos, allerdings dürfte sie angesichts der beträchtlich größeren Werbeangebote und Verlockungen heutiger Konsumgesellschaften schwerer zu realisieren sein als in der Antike. Ein Epikureer würde bescheiden leben, aber auch nicht so karg, dass es ihm schaden könnte. Er würde besonders auf gesunde Ernährung achten und sein weniges Geld sehr bewusst ausgeben. Auf eine steile Karriere würde er vermutlich verzichten zugunsten eines Jobs, der nicht allzu schwer erreichbar ist, seine Psyche nicht belastet und finanziell für die Befriedigung der Grundbedürfnisse ausreicht.

(Nils Sigmund)

3.

Ein Epikureer lebt, indem er frei nach seiner Lust entscheidet. Doch dies erfordert ein Wählen und Meiden, das heute angesichts der vielen Verpflichtungen, die ein Durchschnittsbürger hat, fast unmöglich ist. Schon das soziale Zusammenleben wäre gefährdet, da man Kontakte nur knüpfte, wenn man Lust dazu hätte. Dasselbe gilt für das Pflegen von Freundschaften. Auch ein geregeltes Berufsleben lässt sich nur mit Epikur nicht vereinbaren, denn der Epikureer ginge nicht zur Arbeit, wenn er keine Lust dazu verspürte. Sein Job ginge verloren und folglich müsste er im künftigen Leben auf Vieles verzichten, das ihm Lust bereiten würde. Er müsste unter heutigen Verhältnissen viele Abstriche von seiner Lehre machen, da er zu allererst seine Pflichten zu erfüllen hätte, um seinen Lüsten nachgehen zu können.            (Lea Herbst)

4.

Was heißt eigentlich Epikureismus? Wichtig ist, dass Epikur den Lustbegriff ganz neu definiert hat: Lust ist, ein schmerzfreies Leben voller Gesundheit zu führen. Im Zentrum stehen also die „Gesundheit des Leibes“ und die „Beruhigtheit der Seele“, da das schmerzfreie Leben sowohl physisch als auch psychisch zu verstehen ist. Echte Bedürfnisse kennt er nur solche, die für das (Über-)Leben notwendig sind. Daher pflegte der heutige Epikur einen völlig anderen Lebensstil als die Konsum- und Lustgütergesellschaft: Er käme ohne Genussmittel, ohne Medien aus und lebte von möglichst wenig materiellen Dingen.

Angenehmes wie Schönheit, Anerkennung, Sexualität, Besitz etc. werden jedoch von jedem Menschen individuell gebracht und geprägt. So kann etwa Schönheit, bei angemessener, nicht verschwenderischer Verwendung der „Beruhigtheit der Seele“ und der „Gesundheit des Leibes“ durchaus förderlich sein. Denn ist jemand hässlich und wird deswegen gemobbt, ist seine Seele wahrscheinlich aufgewühlt, sein Körper verspannt.

Auf diese Weise ließen sich also sämtliche Einträge eines Bedürfniskataloges einzeln und individuell verschieden auslegen und damit auch die Frage nach der Lebensweise des modernen Epikureers verschieden beantworten.                                     (Sarah Schröter)

5.

Heutzutage wäre es nicht einfach, als Epikureer sein Leben zu führen, da es u.a. dem Leitprinzip, im privaten Bereich zu bleiben, folgen müsste. Wir aber werden über die Medien und soziale Kontakte ständig mit Politik und öffentlichem Leben konfrontiert. Ein heutiger Epikur müsste also versuchen, sich diesen Einflüssen weitgehend zu entziehen. Er müsste ohne Telefon, Fernsehen, Internet etc. leben, nach Möglichkeit außerhalb der Stadt, um sich auf diese Weise „im Verborgenen“ zu halten.

Gleichzeitig ist es aber für seine Glückseligkeit notwendig, seine Lüste zu stillen. Deshalb sollte er sich nicht vollständig von sozialen Einflüssen entfernen, sondern seine Freunde bei sich behalten. Außerdem darf er möglichst nur angenehme Sinneswahrnehmungen aufnehmen, Dinge tun, die ihm Spaß machen, sich Reizen aussetzen, die ihm Freude bereiten. Er musss somit ständig Vorsicht walten lassen, um z.B. Schmerz zu vermeiden.

Zur „Beruhigtheit der Seele“ sollte er immer mit sich selbst im Reinen sein. Dazu gehört, moralisch zu handeln und sich unter Menschen zu begeben, die dieses Handeln positiv bewerten und zurückgeben. Nur so würden seine notwendigen natürlichen Bedürfnisse gestillt.

Da heute aber jeder Bürger Mitglied eines Netzes (Familie, Arbeit, Politik, Wirtschaft, Verwaltung) ist, dem er nicht ohne Weiteres entfliehen kann, dürfte es für ihn auch kaum möglich sein, nur positive Sinnes- und Geisteswahrnehmungen zu erlangen, von Krankheiten und Gedankenobsessionen einmal ganz abgesehen. Dem könnte ein pfiffiger Epikureer jedoch mit einem gestutzten Epikureismus begegnen, indem er allen, auch aufwühlenden Wahrnehmungen einen positiven Anteil zu entlocken versucht, um so die Beruhigtheit von Körper und Geist wiederherzustellen.                     (Sabrina Klein)

6.

Der Epikurismus basiert auf dem Leitsatz „Des Fleisches Stimme ist: Nicht hungern, nicht dürsten, nicht frieren! Denn wenn einer dies besitzt und erwarten kann, es zukünftig zu besitzen, könnte er selbst mit Zeus um das Glück wetteifern.“

Doch wer hat heutzutage kein Handy, keinen Computer und nicht ständig neue Sachen? Ein Epikureer wird sich also von seinen Mitmenschen stark unterscheiden. Auch wenn der Vergleich etwas hinkt: Die Grundmerkmale des Epikurismus vertreten heute die Asketen, bzw. Sadhus in Indien, wenngleich sie den epikureeischen Weg aus religiösen Gründen einschlagen. Der (gute) Sadhu zieht in die Einsamkeit, isst Wurzeln, Gräser und all‘ das, was die Natur ihm bietet; trinkt aus Bächen und lebt in einfachsten Behausungen, die ihm Schutz vor den Launen des Wetters verschaffen. Er ist häufig sehr entspannt und gelassen, denn er weiß, dass er seine Grundbedürfnisse erfüllen kann, dass er nichts weiter braucht als sich und das Bisschen, was er hat. Dagegen unterliegen die meisten Menschen dem System der Werbung und stets wechselnder Angebote, wollen immer wieder mehr, größer, schöner und besser leben. Viel zu sehr auch lassen sie sich von den gesellschaftlich akzeptierten und verbreiteten Vorstellungen von Glück und Ansehen leiten.

Um ein 2. Beispiel anzuführen: In Deutschland leben zwei 14-jährige Mädchen, eine „Otto-Normalverbraucherin“ (1) und eine Epikureerin (2), die in dieselbe Klasse gehen. Während (1) immer mit schönen Blöcken (mit Pferdemotiven) zur Schule kommt, hat (2) ganz einfache Blöcke, die nur zum Schreiben dienen. Auch in der Kleidung unterscheiden sie sich: (1) trägt hübsche, oft wechselnde Sachen, (2) wechselt zwischen wenigen hin und her, wird deswegen von Mitschüler/innen komisch angesehen. Einige finden ihr spärliches Sortiment sogar unhygienisch, da sie denken, dass (2) ihre Kleidung nie waschen kann. Als (1) sich einmal mit (2) zum Shoppen verabreden wollte, sagte (2), sie benötige nichts Neues. (1) schüttelte darüber nur den Kopf.

Wenn (2) nach einer Telefonnummer gefragt wurde, antwortete sie stets, ihre Familie brauche kein Telefon, sie sei per Post erreichbar. Als (1) mal zum gemeinsamen Lernen zu (2) nach Hause kam, stellte sie fest, dass (2)s Familie in einer 2-Zimmer-Wohnung hauste. Am nächsten Tag fragte sie sie, wie denn 5 Personen in einer so kleinen Wohnung Platz fänden. (2) antwortete darauf: „Des Fleisches Stimme ist: Nicht hungern, nicht dürsten, nicht frieren! Und wir frieren in unserer Wohnung nicht.“                                      (Esther Willma)

 

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