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Das Golden Eck

Das Golden Eck

Das Golden Eck

Hagen Liebing

Zum Schulumzug der Hans-Carossa-Oberschule ‑ meiner Schule, wie ich zur eigenen Überraschung selbst noch 20 Jahre nach dem Abschied von dieser Institution empfinde ‑ stellt sich für mich vor allem eine Frage: Was ist es eigentlich, was einer Schule letztlich zum eigenen Charakter verhilft? Ist es der Lehrkörper, der Generationen von Schülern bearbeitet, sind es die Eleven selbst, die den „Carossa‑Spirit“ mitprägen und ihn dann hinaus ins richtige Leben tragen, oder kann es nicht vielleicht auch das Gebäude sein?

Gedanken, die man sich 1951 sicher nicht gemacht hatte. Die neu gegründete Hans-Carossa-Oberschule kam ins ehemalige Reichsluftfahrtgerätewerk, weil Reich und Luftfahrt perdu waren, das Werk jedoch ironischerweise von Kriegseinwirkungen relativ unbeschadet geblieben war. Trotzig signalisiert aber der streng symmetrische, spartanisch schnörkellose Komplex, der so gänzlich ohne Rundungen oder Spielereien auskommt und deshalb selbst mit dem Lego­-Grundbausatz problemlos nachgebaut werden kann, bis heute noch: Ich bin eigentlich gar keine Schule.

Die Anekdoten meines Vaters, der hier als Teenager lernte, wie man Kampfflugzeuge ausrüstet, konnte ich mir denn auch während der Schulzeit in der Streitstraße 5 ‑ 10 sehr viel besser ausmalen als manche Paukerstories der älteren Schwester, die immerhin an die HCO kam, als sogar die APO für Spannung gesorgt haben soll. Zu den schmucklosen und kalten Räumen und dem mit zunehmenden Jahren immer mehr unter dem bröckelnden Putz hervortretenden Stahlbetonkorsett passten Feinmechanik an Stuka‑Armaturen oder Flakgeschütze, wie sie in Kriegszeiten auf den großen Türmen installiert waren, nun mal viel besser. „Feuerzangenbowle“ – Fehlanzeige.

Also suchten wir uns Geborgenheit woanders. Die Kneipe „Goldenes Eck“, strategisch geschickt gegenüber dem Haupteingang der Schule platziert, um so ihre unwiderstehliche Sogwirkung auf Heranwachsende mit einem Mindestmaß an Freiheitsdrang zu entfalten, war die inoffizielle Filiale der HCO, ein Ort, wo selbst beim Schwänzen noch in Geometrie (Billard) und Mathe (17+4) dazu gelernt wurde und wo das spärliche gastronomische Angebot der Lehranstalt (Getränkeautomat mit wahlweise überzuckertem Kakaoersatzausstoss oder Verabreichung einer Überdosis Natrium namens Gemüsebrühe) um Hakenfeldes bürgerliche Küche (Bier und Boulette) bereichert wurde.

Ungesunder schien damals nur noch der Nikotingebrauch gewesen zu sein, weshalb die Schulleitung den Besuch der Raucherecke auch strikt vom Lehrkörper überwachen ließ und die Paffer selbst im Winter in die klirrende Kälte verbannte.

Das alles werden künftige Schüler‑ und Lehrergenerationen nicht mehr erleben, wenn die Hans-Carossa-Schule im Sommer ins ungleich vornehmere Gatow umzieht und ihre zähe, alte, denkmalgeschützte Hülle künftig Teil der Wasserstadt Spandau werden soll. Wohnen, Gewerbe, Erholung, ein kleiner Hafen und sogar ein Aldi-Markt – dort, wo fast 50 Jahre lang für’s Leben gelernt wurde, zieht nun wirklich das Leben ein.

Was aber geschieht mit dem Interieur, mit den Tischen, Stühlen, Schränken, Kartenständern und Hörsaalpulten, auf denen sich gelegentlich sogar noch Schülerintarsien aus grauer carossaischer Vorzeit finden lassen? Wird es versteigert, damit sich meinesgleichen ein Stück eigener Jugend zurückkaufen kann, wird es traditionshalber und identitätsstiftend auf den weiten Weg ans andere Ende von Spandau mitgenommen?

Keine Spur. „Das Inventar wird auf andere Institutionen im Bezirk verteilt“, wie der Schulhausmeister auf Befragen mitteilt, „und was dann noch übrig ist, kommt als Sachspende nach Bosnien.“ Womit nicht wenige Lehrer mit ihrem Umzug nach Gatow mehr Durchhaltevermögen als das alte Schulmobiliar beweisen.

Und wenn mein sechsjähriger Sohn eines Tages womöglich den Entschluss fasst, ebenfalls Carossianer zu werden? Dann muss ich ihm ganz offen die Vor‑ und Nachteile des nun anstehenden Ortswechsels schildern: Die neue Schule sieht zwar erfreulicherweise nicht danach aus, als würde dort jemals an Kriegsflugzeugen gebastelt (auch wenn selbst hier wieder die Luftwaffe gleich um die Ecke ist), dafür aber ist in keinem mir bekannten Bauplan ein Indiz für den Umzug des „Golden Ecks“ zu finden.

Gastronomen ‑ übernehmen Sie!

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Der Artikel erschien in der HCO-Festschrift „HCO 2000“.

 

Hagen Liebing ging nach dem Abitur an der HCO (1979) als Bassist zu den Ärzten, studierte Medienwissenschaften, war Redakteur beim Tagesspiegel und bei dem Magazin TIP, schrieb für den Rolling Stone und Max. 1999 erschien sein erstes Buch: Endlich Buntes, 100 Prominente verjubeln ihr Begrüßungsgeld. Seine Erfahrungen als Bandmusiker verarbeitete in dem Buch The Incredible Hagen – Meine Zeit mit Die Ärzte. Hagen Liebing starb am 25. September 2016 im Alter von 55 Jahren nach einer schweren Krankheit.

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