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Exkursion

 

Exkursion

Gentrifizierung und Segregation

Kreuzberg live

 

Am letzten Schultag vor den Herbstferien unternahmen unsere beiden frisch ge­backenen Geographie-Leistungskurse der Qualifizierungsstufe 1 mit ihren Leh­rerinnen Frau Schmidt und Frau Schlung eine Exkursion nach Kreuzberg SO36. Nachdem wir uns im Unterricht zuvor intensiv mit den städtegeographischen Themen Segregation und Gentrifizierung beschäftigt hatten, drängte sich dieses Exkursions­ziel geradezu auf.

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Als Schüler und Lehrer, die einen Großteil ihrer Zeit im beschaulichen Kladow verbringen, schienen wir an unserem Treffpunkt, dem Kottbusser Tor, in eine völlig andere Berliner Welt versetzt zu werden.

Während die Vorderseite des den Platz dominierenden berühmt berüchtigten Bauobjekts, für das wohlgemerkt nach (!) dem Zweiten Weltkrieg schöne Gründerzeithäuser abgerissen wurden, noch ganz nett im morgendlichen Sonnenschein hinter südländischem Obst glänzte, drängte sich mir bei der Durchquerung der Unterführung in Richtung Dresdener Straße und dem Anblick der Rückansicht derselben Großwohnanlage unweigerlich der Songtext „Schwarz zu blau“ von Peter Fox auf, eine eigenwillige Hommage an den „Kotti“.

Unser fachkundiger Guide, Herr Funken, konnte uns viel Hintergrundwissen ver­mitteln, so erzählte er beispielsweise, dass die Städteplaner der 60er/70er Jahre vorhatten, im Zentrum von SO 36 ein riesiges Autobahnkreuz zu errichten, sämtliche hier nach dem II. WK noch wunderbar erhaltene Gründerzeitbauten abzureißen und gegen Betonklötze und Plattenbauten zu ersetzen.

Die neuange­kommen Gastar­beiter aus Italien, Griechenland und der Türkei wurden in Kreuzberg in die Altbauten einquartiert, da man damit rechnete, dass diese nur vorübergehend blieben und man nach ihrer Rückkehr in die Heimatländer die Altbauten nach und nach abreißen konnte. Doch viele blieben in Deutschland und wurden schließlich Deutsche, ihnen haben wir es u.a. schließlich zu verdanken, dass nicht noch mehr Altbauten in Kreuzberg den unansehnlichen Betonbauten weichen mussten.

Ein geographisches Leitbild der 60er Jahre war die autogerechte Stadt und der Slogan hieß „Freie Fahrt für freie Bürger“, demzufolge baute man auf die Rückseite der Großwohnanlagen auch riesige Parkhäuser, vergaß dabei jedoch ganz, dass die Bewohner nicht nur Autos besaßen, sondern auch Kinder. Für Kindergärten und Schulen waren also keine Gebäude vorgesehen, sodass das ehemalige Parkhaus in der Dresdener Straße heute zu einer Kita umfunktioniert wurde.

Der Dresdener Straße nach Nordwesten folgend gelangten wir nach kurzer Zeit auf den Oranienplatz, dessen Gebäude jahrzehntelang bei den 1. Mai-Demos so sehr in Mitleidenschaft gezogen wurden, dass sich kaum Mieter für die Ladengeschäfte in den Erdgeschossen fanden. Die Anwohner begannen schließlich mit Gegende­mon­strationen, indem sie auf dem Oranienplatz am 1. Mai Feste feierten und die gewalt­bereiten Demon­strationen somit einfach „wegfeierten“.

Heute hat der Platz eine enorme Wertsteigerung erfahren, indem jüngst ein sehr schöner Jugendstil-Altbau von einem Investor gekauft und zu dem Luxushotel „Orania“ umgestaltet wurde. Nicht jeder Einheimische freut sich jedoch über diese „Aufwertung“ im Zuge der Gentrifizierung.

Nicht viel weiter zeigte sich SO36 erneut in einem gänzlich anderen Licht, nach kur­zem Spaziergang durch den Grünstreifen zwischen Legiendamm und Leuschner­damm standen wir vollkommen überraschend vor einem quadratisch angelegten und blumenumrandeten Teich, dem sogenannten Engelbecken, mit Blick auf die schloss­ähnliche Sankt Michael Kirche.

Hier stand ehemals die Berliner Mauer, die linke Seite, der Legiendamm, wird gesäumt von sozialistischen Plattenbauten, auf der rechten Seite, dem Leuschnerdamm, finden sich dagegen edel sanierte Gründerzeit­bauten und auch einige moderne Häuser aus der Nachkriegszeit. Beide Seiten teilen sich jedoch den schönen Blick auf das Engelbecken und die inzwischen stark gestie­genen Mieten, die sich längst nicht mehr Jedermann leisten kann.

Nach rechts bogen wir in den Bethaniendamm ein. Hier finden sich tatsächlich noch ländlich anmutende, nicht bebaute Grundstücke mit Ziegenhaltung, die heute z.B. vom Kinderbauernhof „Am Mauerplatz“ genutzt werden.

Der Blick geht hinüber zu den sehr schönen Altbauten im zu Mitte gehörenden Engeldamm hinter dem Luisenstädtischen Kanal, der zur Zeit des Kalten Krieges zum sogenannten Todes­streifen zwischen Ost- und Westberlin zweckentfremdet wurde.

Weiter ging unser Weg zum ehemaligen Krankenhaus Bethanien, das heute als Kulturstätte Künstlern und Musikern dient und welches das erste von Hausbesetzern belagerte Haus in Kreuzberg war.

Die Sankt-Thomas-Kirche, die wir dann erreichten, lag zur Zeit der deutschen Teilung in einem Randgebiet im Berliner Westen, ihre Gemeinde wurde durch den Mauerbau 1961 geteilt. In der Kirche ist eine ständige Ausstellung mit Bildern aus der Zeit des Kalten Krieges zu sehen.

Der Bürgersteig vor den zum Westteil gehörenden Häusern einiger Straßen in der hier befindlichen Luisenstadt war paradoxerweise Staatsgebiet der DDR, obwohl er auf der westlichen Seite der Mauer lag. Dadurch wurde er weder von westdeutschen noch von ostdeutschen Polizisten überwacht, weshalb sich hier eine Art rechtsfreie Zone bildete, die gerne auch mal von Drogendealern aufgesucht wurde.

Abbildung aus der Ausstellung in der Sankt-Thomas-Kirche

Weiter führte uns unser Guide über den Mariannenplatz zur Oranienstraße mit dem berühmten Veranstal­tungsort SO36. Auch hier bangen die Ladenbesitzer um die Sanierung ihrer Gebäude im Rahmen der Gentrifizierung.

In der Oranienstraße bogen wir zunächst in einen schön begrünten Innenhof ein. Hier standen in den achtziger Jahren noch Außentoiletten im Hof, auch waren die Höfe damals viel enger und nicht so begrünt wie heute. Die Stadtsanierung hat also neben der unschönen Verdrängung von alteingesessenen Bewohnern auch ihre guten Seiten, denn hier wurden mehrere enge, kleine und dunkle Innenhöfe zu einem großen Innenhof zusammengelegt, indem man die Innenwände eingerissen hat, was an den Mauern noch zu erkennen ist. Den durch den Abriss entstandenen Schutt ließ man einfach liegen und errichtete darauf eine waldartig anmutende Hügellandschaft, die mit inzwischen hochgewachsenen Bäumen und Gras bepflanzt wurde.

Unsere letzte Station waren mehrere Backsteininnenhöfe in der Oranienstraße. Hinter den Vorderhäusern verbirgt sich hier oft noch ein erster, zweiter und dritter Innen­hof. Durch die vielen Plaketten an den Haustüren und –wänden konnten wir uns davon überzeugen, dass sich hier viele Künstler, Kreative und Freischaffende angesiedelt haben.

Vom dritten Hinterhof eröffnete sich uns ein Blick auf eine relativ neu gebaute Moschee, die schon wieder zum dahinterliegenden Kottbusser Tor gehört und zeigt, dass Kreuzberg SO 36 nicht nur eine starke soziale Durchmischung aufweist, sondern auch ein multikulturelles Viertel ist.

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Text, Fotos: Astrid Schlung

 

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